Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
war kalt. Es erübrigte sich, ihren Puls zu kontrollieren. Sie lebte nicht mehr. Sie hatte genug gehört, um endlich sicher zu sein, dass Charlie nie mehr wiederkommen würde, und sich dann davongestohlen, während ich nicht aufgepasst hatte.
Ich begann– zunächst ganz ruhig– nach dem Abschiedsbrief zu suchen, den ich irgendwo vermutete. Auf dem Nachttisch fand ich nichts. Auch nicht auf dem Fußboden, in ihren Händen oder im Bett. Ich suchte ihre Kommode ab und die Taschen ihrer Kleidung. Aber nirgends konnte ich etwas finden. Nichts, nichts, nichts. Sie hatte mich verlassen und es nicht einmal für nötig gehalten, sich zu verabschieden.
Die Erkenntnis, dass sie nun auch tot war, so wie die anderen, traf mich wie ein Schlag, und ich stürmte aus ihrem Zimmer ins Bad, weil das ganze gute Frühstück in mir rumorte. Ich schaffte es gerade noch zur Toilette, ehe ich alles, was ich an diesem Tag gegessen hatte, wieder erbrach und schließlich nur noch den brennenden Geschmack von Galle im Mund hatte, während mein Magen immer noch darauf bestand, sich umzukrempeln. Als es endlich vorbei war, glitt ich an der Badezimmerwand hinab, zog die Knie an und stützte meine Ellbogen darauf. Ich presste die Handballen auf meine Augenhöhlen, bis helle Lichter hinter meinen Lidern zu tanzen und zu wirbeln begannen.
Nach einer Weile stand ich auf, beugte mich über das Waschbecken und spülte meinen Mund mit kaltem Wasser aus. Teilnahmslos registrierte ich, dass meine Hände zitterten. Mein Spiegelbild sah abgehetzt aus. Meine Wangen waren hohl und meine Haut bleich. Plötzlich wusste ich, wie ich aussehen würde, wenn ich alt war.
Vom Flur aus warf ich durch die geöffnete Tür einen Blick in Mums Zimmer. Ihre Füße zeichneten sich unter der Bettdecke ab. Sie würde sich nie wieder bewegen. Nie mehr. Ich konnte es einfach nicht fassen. Es war, als würde mein Gehirn sich weigern, das Geschehen zu verarbeiten. Vielleicht war es der Schock, aber ich konnte nicht mehr als zwei Schritte vorausdenken.
Ich wusste schon, dass ich ein paar Leute benachrichtigen und einiges erledigen musste. Aber statt mich darum zu kümmern, ging ich zu dem Briefstapel, den ich in der Tür hatte fallen lassen, und fischte den Umschlag mit meinem Autoschlüssel heraus. Ich brauchte jetzt einfach jemanden, der den Arm um mich legte und mir sagte, dass alles wieder gut werden würde. Ich brauchte jemanden für mich, mit dem ich reden konnte und der vernünftig und rational erklären konnte, was meiner Familie zugestoßen war. Der einzige Mensch, dem ich das zutraute– und mit dem ich jetzt reden wollte, weil er sicher wusste, was zu tun war–, war Blake.
Ich wollte mein Auto holen, wie ich es vorgehabt hatte, und zu ihm fahren, und er würde alles wieder gut machen.
Manche Menschen sterben im Feuer, weil sie sich weigern, ihre Pläne zu ändern. Manche Menschen begeben sich sehenden Auges in Gefahr, weil sie Angst vor dem Unbekannten haben.
Mein Leben stand gerade lichterloh in Flammen, und das Einzige, was ich mich gerade fragte, war, ob mein Auto immer noch dort stand, wo ich es geparkt hatte.
2005
Seit 13 Jahren vermisst
Ich bin auf dem Weg nach Hause. Dort will ich noch ein paar Sachen abholen, und das war’s dann. Alles andere ist geregelt. Ben hat in Manchester ein Haus für uns gefunden, in dem wir mit vier Freunden von der Uni eine WG gegründet haben. Ich habe eine Stelle bei einem Reisebüro bekommen. Das Gehalt ist nicht gerade umwerfend, aber es gibt ein paar wirklich tolle Vergünstigungen: billige Flüge und Hotels weit über dem Standard, den wir uns leisten könnten. Ben und ich haben schon unsere Reisen für nächstes Jahr geplant: Marokko, Italien, und über Weihnachten wollen wir nach Phuket. Trifft sich alles bestens.
Eigentlich muss ich nur noch Mum Bescheid sagen, meinen Kram schnappen und dann zusehen, dass ich verschwinde.
Aber schon bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Ich schaukle im Rhythmus des Zuges. Draußen vor dem Fenster gleiten die Wiesen und Felder vorbei. Ich versuche krampfhaft den Gedanken zu verscheuchen, dass ich nach der Ausbildung vielleicht wieder zurück nach Hause gehen könnte, und endlich zu akzeptieren, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Dieser Teil meines Lebens ist abgehakt. Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass Mum mich wieder zu Hause haben will. Aber noch habe ich es ihr nicht gesagt. Ich habe ihr auch noch nicht von Ben erzählt, der seit über zwei Jahren mein
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