Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Haus war er sehr still. Ich hob die Post vom Boden auf und legte einen gepolsterten Umschlag mit Tante Lucys Handschrift beiseite. Es war mein lang erwarteter Ersatzschlüssel. Wenn ich mit der Hausarbeit fertig war, konnte ich also endlich mein Auto holen oder zumindest den Pannendienst rufen.
Die Post war voller Regentropfen und fühlte sich klamm an. Ich ließ sie einfach auf dem Tisch im Flur liegen und ging in die Küche. Mir fehlte schlicht die Energie, um die Umschläge zu öffnen. Von der Küchenuhr hörte man die Sekunden ticken wie bei einem Totenuhr-Käfer. Verblüfft starrte ich auf das Ziffernblatt. Es war erst neun Uhr morgens. Ich hatte gedacht, es sei mindestens schon Mittag.
Bei dem Gedanken an etwas zum Essen drehte sich mir der Magen um. Wahrscheinlich hatte ich Hunger, sagte ich mir, zog meine triefend nasse Jacke aus und hängte sie über einen Küchenstuhl. Der Hersteller hatte offensichtlich eine ganz andere Vorstellung von wasserdicht als ich. Mein T-Shirt war an den Schultern klatschnass und klebte eiskalt auf der Haut.
Im Kühlschrank fand ich eine Packung Schinkenspeck und ein paar nicht mehr ganz so frische Eier, deren Zubereitung ich riskieren wollte. Ich nahm eine Pfanne aus dem Schrank und machte mich daran, das fettigste und ungesündeste Frühstück zuzubereiten, das ich mir vorstellen konnte. Im zischend heißen Öl vereinigten sich die Spiegeleier mit den sich kräuselnden Speckstreifen. Das war jetzt haargenau das Richtige. Außerdem goss ich Tee auf, toastete ein paar Scheiben Brot und deckte den Tisch auch für Mum mit, falls der Bratgeruch sie hungrig machte. Der Schinkenspeck verströmte einen himmlischen Duft– vielleicht bekam sie ja Appetit davon. Ich nahm die Pfanne von der Kochstelle und ließ sie auf dem Herd stehen, falls sie hinzukam.
Es war ein ziemlich grandioses Frühstück. Das Eigelb ergoss sich satt und dickflüssig über den Toast, und der Schinken war zu salzigen Streifen geschrumpft, die hier und da von weißen Fettadern durchzogen waren. Ich aß ganz systematisch; das heiße Essen und der starke Tee wärmten mich. Ich musste Mum sagen, dass man Charlie gefunden hatte, verbot mir jedoch, während des Essens daran zu denken. Ich war noch nicht so weit. Sie liebte Charlie abgöttisch und erbittert und hatte mir so oft gesagt, dass ich das erst verstehen würde, wenn ich selbst Kinder hätte, dass allein der Gedanke daran mich frieren ließ. Wenn das Liebe war, wollte ich lieber darauf verzichten.
Auch als ich die letzten Eigelbreste vom Teller getupft hatte, war von oben noch kein Geräusch zu hören. Ich musste sie also wecken, dachte ich und stellte mein Geschirr ins Spülbecken. Den Teerest goss ich in eine saubere Tasse. Er war zwar vom langen Stehen schon so dunkel wie Bratensauce geworden, aber das würde sie vermutlich nicht stören. Ich machte noch einen kleinen Umweg in den Hausflur, nahm die Post vom Tisch und sah sie schnell durch. Nur Rechnungen und Werbung– das Übliche, nichts von Interesse. Ich klemmte mir die Umschläge unter den Arm, stieg vorsichtig die Treppe hinauf und hielt dabei die Tasse mit beiden Händen fest. Die Tür zu ihrem Zimmer war zu, nicht anders als am frühen Morgen, als ich das Haus verlassen hatte. Alles sah ganz normal aus. Eigentlich gab es keinen Grund, beunruhigt zu sein. Trotzdem zitterte meine Stimme, als ich rief: » Mum?«
Von drinnen war kein Laut zu hören. Mit einem Blick auf den schwappenden Tee in der Tasse klopfte ich noch einmal. » Kann ich reinkommen?«
Schon als ich die Tür öffnete, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Noch ehe ich das Zimmer betreten hatte, wusste ich, was geschehen war. Mum war überlegter vorgegangen als Paul und hatte keinen Fehler gemacht. Auf dem Nachttisch standen ordentlich aufgereiht diverse Arzneigläschen– allesamt ohne Deckel und leer. Auf dem Fußboden stand eine Whiskeyflasche, in der sich noch ein kleiner Rest befand, daneben eine leere Flasche. Im Bett ruhte– sorgfältig zugedeckt– eine schmale Gestalt, die meine Mutter war. Sie lag auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt. Im spärlichen Licht, das durch die leicht geöffneten Vorhänge fiel, sah ihr Gesicht aus wie Wachs. Im Zimmer roch es leicht säuerlich, was von einem Fleck auf ihrer Schulter und der Matratze herrührte. Sie hatte sich übergeben, jedoch nicht gründlich genug, um zu überleben. Ohne nachzudenken, war ich bis an ihr Bett herangegangen. Ganz sanft berührte ich ihre Hand. Sie
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