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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Freund ist und weiß, dass er meine Mutter wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen wird, allerdings nicht, warum. Und ich habe Ben auch nie etwas von Charlie oder meinem Vater oder all den Dingen erzählt, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Ich habe zu viele Geheimnisse vor ihm. Zu vieles, das ich für mich behalte. Irgendwann dieser Tage werde ich wohl reinen Tisch machen müssen, damit er eine Vorstellung davon bekommt, in wen er da verliebt ist. Aber nicht jetzt.
    Zuerst ist Mum an der Reihe.
    Das Haus kommt mir leer vor, als ich mit meiner schweren Tasche darauf zugehe. Die Fenster sind dunkel. Mum ist eigentlich immer zu Hause, aber es kommt mir komisch vor zu klingeln. Ich schließe also auf und gehe ins Haus, wobei mir gleich ein strenger Geruch auffällt, der an verdorbene Lebensmittel erinnert, und auch noch etwas anderes liegt in der Luft.
    Ich schalte das Licht an und sehe sie sofort, wie sie seltsam verdreht vor der Treppe liegt. Ich weiß nicht mehr, wie ich meine Tasche abgestellt oder mich von der Stelle bewegt habe, aber plötzlich stehe ich neben ihr und rufe: » Mum! Kannst du mich hören? Mummy?«
    So habe ich sie schon seit Jahren nicht mehr genannt.
    Sie gibt einen kaum hörbaren Laut von sich, und vor Erleichterung japse ich nach Luft. Doch sie fühlt sich ganz kalt an, und ihre Hautfarbe ist furchterregend. Das eine Bein liegt in einem eigenartigen Winkel unter ihr, und ich begreife sofort, dass es gebrochen ist. Mir ist auch klar, dass sie schon länger so hier gelegen hat. Auf dem Teppich unter ihr zeichnet sich ein dunkler Fleck ab, und der strenge Geruch ist hier besonders intensiv; es ist Ammoniak.
    » Ich rufe den Notarzt«, sage ich laut und deutlich und will zum Telefon gehen, das die ganze Zeit nur wenige Zentimeter von ihr entfernt gestanden hat. Fast schreie ich auf, als sich eine Hand mit überraschender Kraft um mein Fußgelenk legt. Sie versucht zu sprechen, und ihre Augen flackern dabei.
    Ich beuge mich über sie und versuche, ihren strengen Körpergeruch und ihren faulen Atem zu ignorieren. Ich spüre Entsetzen und Mitleid und Scham. Es dauert ein paar Sekunden, ehe sie wieder sprechen kann.
    » Geh… nicht…«
    Ich schlucke heftig und versuche, den Kloß in meinem Hals zu lösen, der sich dort gebildet hat. » Auf keinen Fall, Mum. Versprochen.«
    Ich rufe den Notarzt, sitze an ihrem Bett, spreche mit den Ärzten und bringe das Haus in Ordnung. Dann rufe ich Ben an und sage ihm, dass ich es mir anders überlegt habe. Ich lasse ihn in der Überzeugung, dass ich ihn nie richtig geliebt habe. Ich lasse ihn glauben, ich hätte ihn belogen. Mein Handy lasse ich einfach klingeln, und Textnachrichten von meinen Freunden beantworte ich nicht mehr. Ich breche alle Brücken ab. Ich ziehe einen Schlussstrich.
    Und dabei komme ich nie auf den Gedanken– nicht ein einziges Mal–, dass ich mich irren könnte, dass ich meine Mutter wieder einmal nicht richtig verstanden habe.
    Geh nicht?
    Vielleicht meinte sie eher:
    Geh! Nicht!
    Das wäre doch viel einleuchtender.

18
    Der Polizist, der bei den Shepherds vor dem Haus stand, wirkte gelangweilt. Er hatte unter dem Kirschbaum im Vorgarten Zuflucht gesucht, und dennoch lief der Regen in kleinen Bächen an seiner Mütze und seiner Warnweste hinab. Die Journalisten hatten sich längst neuen, interessanteren Storys zugewandt. Nur hie und da sah man noch jemanden in seinem Auto hinter beschlagenen Scheiben sitzen und warten.
    Jetzt bei Tageslicht erkannte ich Einzelheiten, die ich bei meiner letzten Visite nicht wahrgenommen hatte. Der Rasen war von den Füßen der vielen Besucher zertrampelt und zerwühlt. Ich hielt einen Moment inne, um noch einen Blick über das Gartentor zu werfen, bevor ich zu meinem Auto ging.
    » Sarah!«
    Ich wusste sofort, wer da nach mir rief, noch ehe ich mich umgedreht und Valerie Wade erblickt hatte. Sie stand im Hauseingang der Shepherds und lugte durch den Regen nach draußen. Na großartig. Ich hatte völlig vergessen, dass sie ja da drin sein musste. Das fehlte mir gerade noch, dass sie jetzt bei Vickers anrief, um ihm mitzuteilen, wo ich war. Ich hatte das Gefühl, dass er davon wenig begeistert sein würde.
    » Dachte ich mir doch gleich, dass Sie das sind«, ließ sie mich triumphierend wissen. » Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut und Sie da stehen sehen. Wollten Sie was Bestimmtes?«
    Am liebsten wäre ich davongerannt, ins Auto gesprungen und für immer aus Elmview verschwunden, doch dieser

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