Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
dort allein zurücklassen. Mein Kind. In der Finsternis, in der Kälte, im Regen, völlig schutzlos. Bis jemand– Sie– vorbeikam und sie gefunden hat. Und ich habe ihn nicht daran gehindert.«
Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie wischte sie mit einer heftigen Handbewegung ab und rieb sich die Nase mit dem Ärmel. Es war nicht mehr nötig, sie zu drängen. Die Geschichte brach jetzt wie ein Sturzbach aus ihr heraus, den ich nicht mehr aufhalten konnte, selbst wenn ich es versucht hätte. Es war, als ob sie nur auf eine Gelegenheit gewartete hatte, um jemandem die Wahrheit über die Taten ihre Ehemannes anzuvertrauen.
» Er hatte eben die Sache mit ihrem Freund rausgefunden. Also, er kannte nicht die ganze Geschichte. Von diesen… anderen hatten wir keine Ahnung. Wir nehmen an, dass Jenny uns angeschwindelt hat, damit sie mit Danny zusammen sein konnte, denn sie wusste ja, dass wir damit nicht einverstanden gewesen wären. Michael hatte ihr gesagt, dass sie erst mit achtzehn einen Freund haben durfte. Also selbst wenn Danny in ihrem Alter gewesen wäre, hätten wir nicht zugelassen, dass sie sich treffen.« Sie zwinkerte und zog leicht die Nase hoch. » Ich frage mich wirklich, ob sie vielleicht gerade deshalb mit diesem Danny gegangen ist. Weil sie immer perfekt zu sein hatte– Daddys braves Töchterchen– und weil es so schwer für sie war, dem gerecht zu werden. Aber vielleicht war es ja auch nur, weil sie gewöhnt war, immer zu tun, was man ihr sagte. Vielleicht war das der Trick, wie dieser Kerl sie gefügig gemacht hat. Sie wirkte noch so jung, oder? Sie war doch noch ein Kind, und als sie mir gesagt hat, dass sie schwanger ist, habe ich das erst gar nicht geglaubt.« Diane sah mich gequält an. » Ich hätte einfach nichts sagen sollen. Ich hätte ihr einfach helfen sollen, es loszuwerden und gut. Sie wäre mir dankbar gewesen, weil sie solche Angst hatte und ganz genau wusste, dass sie viel zu jung war für ein Baby und ihr Vater deswegen durchdrehen würde. Aber ich habe sie beruhigt. Ich hab ihr gesagt, das kommt schon in Ordnung. Ich habe gesagt, wir kümmern uns um sie, so wie sonst auch. Ich wusste ja nicht… Ich wusste doch nicht…«
Bei den letzten Worten schrie sie fast. Erschrocken presste sie den Handrücken gegen den Mund, und ihr Brustkorb hob und senkte sich angestrengt, während sie um Fassung rang.
Selbstverständlich wusste ich, dass Trauer seltsame Dinge bei Menschen bewirkt und dass Hysterie lebhafte Halluzinationen hervorrufen kann, dass Schlafmangel und innerer Aufruhr zu einer Vermischung von Fantasie und Wirklichkeit führen können. Ich wusste auch, dass Schuldgefühle zu den destruktivsten Gefühlen überhaupt gehören und dass alle Eltern Schuld empfinden, wenn sie ihr Kind nicht beschützen können. Trotzdem glaubte ich Jennys Mutter jedes Wort, das sie mir gerade erzählte. Ich sah durch die Glastüren des Esszimmers nach draußen, wo ihr Mann im Garten stand. Es hatte jetzt aufgehört zu regnen, doch die Wolken hingen noch immer bleigrau und schwer am Himmel. Er hatte sich eine kleine Zigarre angezündet, von der blauer Rauch in kleinen Kringeln aufstieg. Ich wollte unbedingt noch mehr erfahren, aber dazu musste ich mich beeilen.
» Wie hat er sie umgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf mit geschlossenen Augen und wiederholte: » Ich wusste doch nicht…«
» Ich weiß, Diane. Sie konnten es nicht wissen.« Ich versuchte es noch einmal. » Was ist dann passiert?«
» Als wir es ihm erzählt hatten, hat er sie geschlagen.« Der Schreck war ihrer Stimme noch immer anzuhören. » Er konnte nicht ertragen, dass sie ihn belogen hat. Dann hat er gesagt, dass sie schmutzig ist und ein Bad braucht. Von mir verlangte er, dass ich ihr in die Badewanne helfe. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich ausziehen… Ich dachte, das würde helfen. Ich dachte, dass er sich vielleicht beruhigt, wenn sie aus seinen Augen ist. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass er ihr die Schuld gibt…«
» Und dann?«
Ihre Augenlider zitterten, und sie runzelte die Stirn. » Also, ich bin bei ihr im Bad geblieben. Jenny war verzweifelt– so verzweifelt– und wollte nicht, dass ich sie allein lasse. Und dann kam er ins Bad und war furchtbar wütend, als er mich dort sah. Da hat er auch mich eine Nutte und die Mutter einer Hure genannt, und dann er hat er gesagt, dass ich gern zuschauen kann, wenn ich möchte. Mit beiden Händen hat er sie an den Schultern gepackt, hier…« Sie zeigte auf
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