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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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dem herablaufenden Blut schon ganz rot war. Ich bekam Ärger, weil ich meine neuen Sommerschuhe schmutzig gemacht hatte, dabei war es gar nicht meine Schuld gewesen. Sie hatten nicht auf mich geachtet.
    Ganz anders als jetzt.

3
    Dieser Dienstag war wie kein anderer dazu angetan, sich krank zu melden. Ich saß in meinem Auto und schaute in den Rückspiegel, um mein Aussehen zu kontrollieren. Dabei fielen mir meine grünlich bleiche Gesichtsfarbe und die tiefen Schatten unter den Augen auf – Resultat einer alles andere als ungestörten Nachtruhe. Ich hatte sehr schlecht geschlafen, war ungefähr stündlich aufgewacht und zu nichts anderem in der Lage gewesen, als reglos in die Dunkelheit zu starren. Als mich schließlich der Wecker aus dem Schlaf riss, kamen mir die Ereignisse des vorangegangenen Abends so unwirklich vor, dass ich zu meinem Schrank gehen und in meine Jackentasche greifen musste. Ich wusste nicht recht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte, als meine Finger das kleine rechteckige Kärtchen mit DS Blakes Telefonnummer ertasteten. Und während ich zum Frühstück eine Schälchen Müsli herunterwürgte, sah ich in den Morgennachrichten die – von den Medien noch nicht namentlich genannten – Shepherds, wie sie im fahlen Licht der Morgendämmerung unterwegs zu der Stelle waren, wo der Leichnam ihrer Tochter gelegen hatte. Mrs. Shepherds Frisur war völlig aufgelöst. Anstelle des gepflegten Pagenschnitts, den ich in Erinnerung hatte, hing ihr rotblondes Haar wirr und strähnig herunter. Bevor sie den Wald betraten, blieb Michael Shepherd kurz stehen und schaute mit rot geränderten, gehetzten Augen über die Schulter zurück, direkt in die Fernsehkamera. Ich musste meine Müslischüssel abstellen, weil mir plötzlich ganz flau im Magen wurde.
    Im Rückspiegel waren auch meine Augen gerötet. Ich sah eindeutig krank aus. Doch zu Hause zu bleiben war kaum verlockender, als zur Arbeit zu gehen. Gestern Abend, als ich heimgekommen war, hatte Mum schon geschlafen, und auch heute Morgen hatte ich sie nicht zu Gesicht bekommen. Doch das konnte ja nicht immer so weitergehen. Wenn ich zu Hause blieb, musste ich ihr früher oder später über den Weg laufen. Und mich obendrein mit ihr unterhalten.
    Also ließ ich den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein, blieb dann jedoch wie erstarrt sitzen, während meine Hände das Lenkrad umklammerten, bis die Fingerknöchel weiß wurden. Ich fühlte mich nicht in der Lage, in die Schule zu fahren, hatte aber keine andere Wahl. Schließlich sagte ich laut » Scheiß drauf. Scheiß auf alles«, löste die Handbremse und ließ den Wagen in Richtung Straße rollen, um dann augenblicklich eine Vollbremsung hinzulegen, weil ein Motorrad mit lautem, ungehaltenem Hupen an mir vorüberdröhnte. Ich hatte es überhaupt nicht gesehen, hatte mich nicht einmal umgesehen. Mit rasendem Herzschlag und weichen Knien bog ich auf die Hauptstraße, krampfhaft darauf bedacht, nicht noch mehr Leute zu gefährden. Jetzt lass dich nicht so hängen … reiß dich endlich zusammen …
    Was die Lage nicht gerade besser– genauer gesagt sogar unerträglich– machte, war der Umstand, dass ich genau wusste, wer dieser Motorradfahrer gewesen war: Danny Keane, Charlies bester Freund von früher. Solange ich denken konnte, wohnte er bei uns gegenüber. Aber er hätte ebenso gut auf dem Mond wohnen können. Die Zeiten, als ich einfach locker mit ihm plaudern konnte, waren schon lange vorbei. Ich ging ihm bewusst aus dem Weg, was er natürlich bemerkt hatte. Es war lange her, dass er mir zugelächelt, zugenickt oder auf sonstige Weise signalisiert hatte, dass er von meiner Existenz Notiz nahm. Dass er für mich mit den schlimmsten Momenten meines Lebens in Verbindung stand und ich unfähig war, die Verknüpfung von » Danny Keane« und » Verzweiflung« in meinem Gedächtnis aufzulösen, war nicht seine Schuld. Normalerweise verließ ich frühmorgens das Haus und kehrte erst so spät zurück, dass sich unsere Wege kaum kreuzten. Doch natürlich wusste ich noch, wer er war, und gewiss erinnerte auch er sich an mich. Ihn vom Motorrad zu fegen wäre ein denkbar schlechter Einstieg für eine Erneuerung unserer Freundschaft gewesen.
    Die Straßen waren überfüllt, und der Verkehr floss ungewöhnlich zäh. An jeder Kreuzung standen Autoschlangen, in den Nebenstraßen bildeten sich Staus, und ich fragte mich, was eigentlich los war. Wie sich herausstellte, war wieder einmal die menschliche Natur

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