Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
nicht sehr überzeugend klang. » Ist schon okay. Man hat ja lange Ferien.«
Er schaute mich skeptisch an. » Das ist doch bestimmt nicht der einzige Grund, weshalb es Ihnen gefällt. Da steckt doch bestimmt noch mehr dahinter. Sie interessieren sich wirklich für Ihre Schüler– das habe ich an Ihrer Reaktion gesehen, als wir über Jenny sprachen.«
In Wirklichkeit habe ich erst angefangen, mich für sie zu interessieren, als sie vermisst wurde. Als sie noch lebte, habe ich mich nicht weiter um sie gekümmert; ich wusste ja nicht mal, dass sie gleich bei mir um die Ecke wohnte. Ich gab ihm keine Antwort, sondern saß einfach da und betrachtete im Seitenspiegel die Straße, die sich wie ein endloses Band dahinzog. Ich konnte nicht sagen, dass ich meinen Beruf liebte. Ja, ich mochte ihn nicht einmal. Auf keinen Fall konnte ich mir vorstellen, ewig in der gleichen Tretmühle zu sein und immer wieder dieselben alten Gedichte und Stücke durchzukauen, deren Zeilen mir durch die ständige Wiederholung schon ganz abgedroschen vorkamen. Ich wollte nicht mein Leben lang an der Tafel stehen, missmutigen Teenagern Antworten aus der Nase ziehen und zusehen, wie sie erwachsen wurden und fortgingen, während ich zurückblieb und auf der Stelle trat.
Der Wagen hielt am Straßenrand. Blake schaute mich an. » Curzon Close. Welche Nummer?«
Mit laufendem Motor standen wir am Anfang der Sackgasse.
» Das ist wunderbar so«, sagte ich hastig und wollte rasch aussteigen. Es war sogar geradezu perfekt. Neben uns war eine meterhohe Hecke, die mich vor neugierigen Blicken schützen würde.
» Ich kann Sie doch bis vor die Tür fahren.«
» Besser nicht.« Ich tastete nervös nach dem Türgriff.
» Hören Sie, ich bin wirklich nicht in Eile. Der Chef wird noch ein Weilchen in seiner Besprechung sitzen. Welche Hausnummer haben Sie denn nun?«
» Vierzehn, aber fahren Sie nicht weiter, ich bitte Sie. Es ist nicht mehr weit, ich kann zu Fuß gehen. Ich will einfach nicht, dass mich jemand aus Ihrem Auto aussteigen sieht.«
Schulterzuckend stellte er den Motor ab und ließ den Schlüssel im Zündschloss stecken. » Wie Sie wollen. Was ist denn das Problem– ein eifersüchtiger Freund?«
Schön wär’s. » Ich will nur vermeiden, dass meine Mutter das Auto hört. Also, ich wohne mit ihr zusammen, und sie – nun ja – mag die Polizei nicht sonderlich. Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem, die ganze Sache mit Jenny, dass ich sie gefunden habe– ich möchte heute einfach nicht mehr darüber reden. Ich will nicht erklären müssen, wo ich gewesen bin. Wenn ich also allein zurücklaufe und still und leise hineingehe, wird sie nie etwas davon erfahren.«
Ich riskierte einen Blick in seine Richtung, weil ich wissen wollte, ob er mich verstand. Er runzelte die Stirn. » Sie leben bei Ihrer Mutter?«
Danke fürs Zuhören. » Ja«, antwortete ich steif.
» Wieso denn das?«
» Hat sich halt so ergeben.« Sollte er sich doch selbst seinen Reim darauf machen. » Und Sie?«
» Ich?«, fragte Blake erstaunt, beantwortete jedoch trotzdem meine Frage. » Ich lebe allein. Keine Freundin.«
Na toll. Jetzt dachte er bestimmt, ich wollte ihn anbaggern– wie es die meisten Frauen an meiner Stelle wahrscheinlich tun würden. Er war ja auch wirklich ein attraktiver Typ. In einer anderen Situation hätte ich mich vielleicht sogar über die Information gefreut, dass er noch zu haben ist.
» Ich wollte eigentlich eher wissen, wo Sie wohnen.«
» Ich habe ein Wohnung in der alten Druckerei am Fluss.«
» Oh, wie schön«, erwiderte ich. Die Druckerei war eine ganz neue und ziemlich schicke Wohnanlage an der Ausfallstraße in Richtung Walton.
» Ja, das stimmt. Nicht dass ich allzu oft dort wäre. Mein Vater war zwar von meiner Entscheidung, Bulle zu werden, nicht eben begeistert, hat aber zum Wohnungskauf was beigesteuert.« Er musste gähnen, wobei seine weißen, ebenmäßigen Zähne sichtbar wurden. » Tut mir leid. Ich kriege einfach zu wenig Schlaf.«
» Ich sollte jetzt gehen«, sagte ich, als mir klar wurde, dass es keinen Grund gab, noch länger sitzen zu bleiben. » Danke fürs Heimfahren.«
» Jederzeit.« Ich fasste das als Gewohnheitsfloskel auf, doch er streckte seine Hand aus und legte sie mir auf den Arm. » Das ist ernst gemeint. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.« Er gab mir seine Visitenkarte. » Die Handynummer steht auf der Rückseite.«
Ich nahm sie entgegen, bedankte mich noch einmal und stieg
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