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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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aus. Unerklärlicherweise peinlich berührt, steckte ich die Karte in meine Jackentasche und ging mit raschen Schritten auf das Haus zu. Die kühle Nachtluft fühlte sich an meinen Wangen eisig an. Hinter mir leuchteten die Scheinwerfer von Blakes Wagen auf. Mein eigener Schatten breitete sich vor mir aus und schwenkte dann zur Seite, als der Wagen in der breiten Sackgasse wendete. Er fuhr los, und ich hörte das Motorengeräusch allmählich in der Ferne verklingen. Im Gehen schnippte ich mit dem Daumennagel an der Karte, eilte die letzten Meter zu unserem Haus und huschte zur Tür hinein. Der Flur war still und dunkel, alles sah noch so aus, wie ich es verlassen hatte. Einen Augenblick lang blieb ich stehen und lauschte der Stille. Es war ein langer, befremdlicher und anstrengender Abend gewesen. Kein Wunder, dass ich mich verstört fühlte. Aber eigentlich gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmte. Warum nur, fragte ich mich und ließ meinen Blick durch die menschenleere Straße schweifen, ehe ich die Haustür schloss, wurde ich dennoch das Gefühl nicht los, dass da draußen jemand war und mich beobachtete.

1992
    Seit sechs Stunden vermisst
    Ohne die Uhr auf dem Kaminsims anzusehen weiß ich, dass es spät ist; längst Schlafenszeit für mich. Eigentlich könnte ich ja froh sein; schließlich bemühe ich mich schon länger darum, abends länger aufbleiben zu dürfen, aber ich bin müde. Angelehnt und die Beine von mir gestreckt, sitze ich auf dem Sofa, sodass meine Waden vom Rand der Sitzfläche plattgedrückt werden und meine Füße in der Luft hängen. Der Sofabezug ist flauschig weich, aber er kribbelt auf der Haut.
    Ich gähne und betrachte meine Hände, die verschränkt auf meinem Schoß liegen– sonnengebräunt auf meinem blauen Baumwollrock. Wenn ich aufschaue, sehe ich meine Mutter auf und ab laufen, wobei ihre Sandalen kleine Dellen im Wohnzimmerteppich hinterlassen. Die Gestalt zu meiner Rechten ist mein Vater, der im Sessel sitzt und auf den ersten Blick ganz entspannt wirkt. Ich habe schwarze Schmutzränder unter den Fingernägeln. Quer über meinen linken Handrücken zieht sich ein frischer Kratzer, die Haut ringsum ist gerötet. Woher er kommt, weiß ich nicht. Jedenfalls tut er nicht weh.
    » Das ist kein Spaß mehr, Sarah. Lass diesen Unsinn. Vergiss alles, was Charlie dir aufgetragen hat, und sag mir endlich die Wahrheit.«
    Mühsam hebe ich den Blick von meinem Schoß und sehe Mum an. Unter ihren Augen sind dunkle Flecken, als hätte jemand die Daumen in schwarze Tusche getaucht und ihr ins Gesicht gedrückt.
    » Keine Angst, dir passiert nichts«, sagt mein Vater sanft. » Du sollst es uns nur sagen.«
    » Sag uns auf der Stelle, wo Charlie ist.« Mums Stimme klingt streng. Sie ist auch müde. » Mach endlich den Mund auf, mein Fräulein. Mach es nicht noch schlimmer für dich und deinen Bruder.«
    Ich sage keinen Ton. Ich habe doch schon erzählt, dass ich nichts weiß und dass Charlie nichts weiter gesagt hat, als dass er gleich wiederkommt. Es ist das erste Mal, dass ich die Wahrheit sage und keiner mir glaubt. Den ganzen Abend habe ich immer wieder geweint und gehofft, dass Charlie nach Hause kommt und dass sie mich in Ruhe lassen. Jetzt schweige ich nur noch.
    Ich lege sorgfältig meinen Rocksaum in Falten wie bei einem Akkordeon– erst breite Falten, dann schmale Falten. Danach ziehe ich den Saum glatt und fange wieder von vorne an. Der Stoff rutscht von meinen Knien. Sie stehen hervor, und die Haut spannt sich über den Kniescheiben. Manchmal male ich Gesichter darauf oder spiele, dass es Berge sind, doch heute sind es einfach nur Knie.
    » Los jetzt, Sarah. In Gottes Namen, sag es uns doch endlich.« Mum hat wieder angefangen zu weinen, und mein Vater steht auf. Er nimmt sie in die Arme und flüstert ihr etwas ins Ohr, ganz leise, sodass ich nicht hören kann, was er sagt. Es ist mir auch egal. Ich spüre, dass beide mich ansehen, so wie sie mich den ganzen Abend immer wieder angesehen haben, seit Mum bemerkt hat, dass Charlie weg ist. Und ein Teil von mir– ein klitzekleiner Teil– findet beinahe Gefallen daran.
    Auf meinem rechten Knie ist eine bläulich weiße Narbe, die der Größe und Form nach aussieht wie ein Apfelkern. Als kleines Mädchen war ich einmal gestolpert und in eine Glasscherbe gefallen. Mum und Dad hatten Charlie beim Fußballspielen zugesehen und nicht gemerkt, was mir passiert war, bis mein Kniestrumpf von

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