Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
über seinem Gürtel ein kleines Dreieck bloßer Haut zu sehen war: straff und gebräunt, und eine schwarze Haarlinie entführte meine Gedanken abwärts in Regionen, wo sie nicht hingehörten.
Er lag reglos da wie eine Fotografie. Das Einzige, was sich an ihm bewegte, war der Sekundenzeiger seiner Uhr. Ich umfasste meine Knie und spürte, wie sich etwas Ungewohntes in meinem Inneren ausbreitete, das ich nach kurzem Zaudern und mit einiger Überraschung als Glücksgefühl identifizierte.
Blake schaute unvermittelt zu mir auf, und ich spürte einen heftigen Stich in der Magengegend. » Essen Sie Ihr Sandwich denn nun oder nicht?«
Die zweite Hälfte lag noch immer eingewickelt da. » Ich habe gar nicht so großen Hunger.«
» Wenn Sie es nicht wollen, würde ich das übernehmen.«
Ich reichte ihm das Päckchen hinüber. Er verschlang das Brot mit drei Bissen, legte sich dann wieder hin und schützte mit dem Arm sein Gesicht vor der Sonne. » Wie geht es eigentlich Ihrer Mutter?«
» Mum?« Bis zu diesem Moment war mir überhaupt nicht mehr bewusst gewesen, dass ich sie gegenüber Blake schon einmal erwähnt hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich ihm wohl gesagt hatte, und zog mich schließlich mit einem » Ach, eigentlich wie immer« aus der Affäre.
» Haben Sie ihr gesagt, wo Sie am Montagabend waren? Dass Sie Ihre Zeit mit bösen Polizisten zugebracht haben?«
Ich lachte. » Nein, ich musste ihr gar nichts erklären. Sie schlief schon, als ich zurückkam.«
» Wieso hasst sie denn die Polizei so sehr?« Er nahm seinen Arm kurz vom Gesicht und blinzelte in meine Richtung. » Das frage ich mich schon die ganze Zeit, seit Sie es mir erzählt haben.«
» Das ist bei manchen Leuten eben so.« Ich wandte mich ab. » Wir hatten ein paarmal mit der Polizei zu tun, und das war– sagen wir mal– nicht besonders hilfreich.«
» Worum ging es denn?«
Einen Augenblick lang zögerte ich und war schon drauf und dran, ihm alles über Charlie zu erzählen. Aber das war eine viel zu lange Geschichte, die ihn zudem wahrscheinlich gar nicht interessierte. Vermutlich stellte er mir diese Fragen nur, weil sich das für einen guten Polizisten so gehörte.
» Alles Schnee von gestern. Sie wissen doch, wie das manchmal ist. Die Polizei hatte eben andere Prioritäten als meine Mutter. Dadurch fühlte sie sich irgendwie im Stich gelassen. Wenn sie nicht so nachtragend wäre, hätte sie die Sache bestimmt längst überwunden.«
» Leben Sie denn nur zu zweit? Kein Vater?«
» Dad lebt nicht mehr«, antwortete ich in– wie ich meinte– unverändertem Tonfall. Trotzdem setzte er sich auf.
» Wann ist er denn gestorben?«
» Als ich vierzehn war. Vor zehn Jahren. Mein Gott, es kommt mir noch gar nicht so lange vor.«
» Und wie kam er ums Leben?«
Ich hatte mich allmählich daran gewöhnt, davon ohne größere emotionale Regungen zu erzählen. » Autounfall. Es passierte, nachdem sie sich getrennt hatten. Er war schon ausgezogen und war gerade von Bristol mit dem Auto hierher unterwegs, weil er mich besuchen wollte und– tja, ein sinnloser Unfall eben.«
Kein Selbstmord. Auch wenn es viel Gerede gab.
» Das war bestimmt nicht einfach.«
» Hmm«, erwiderte ich, ohne ihn anzuschauen. » Danach wurde es zu Hause ziemlich haarig. Mum ging es nach der Scheidung ohnehin nicht besonders gut. Deshalb bin ich ja auch bei ihr wohnen geblieben. Und als Dad dann starb« – ich schluckte – » musste sie eine Zeitlang ins Krankenhaus. Sie ist einfach nicht mehr klargekommen.«
In Wirklichkeit war es noch viel schlimmer gewesen. Sie war vor lauter Kummer richtiggehend durchgedreht– total außer sich und wirklich gemeingefährlich. Zu ihrer eigenen und meiner Sicherheit wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen, und Tante Lucy– dieser Engel– holte mich für ein paar Monate nach Manchester. Von dort aus schrieb ich Mum jeden Tag, bekam aber nie eine Antwort.
» Als sie aus der Klinik kam, war sie offen gestanden immer noch ziemlich neben der Spur. Und so richtig erholt hat sie sich seither eigentlich nicht. Und da nur noch wir beide übrig sind, kümmere ich mich eben um sie. Ich finde, das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
» Was Ihrem Vater zugestoßen ist« – er streckte seine Hand aus und berührte meinen Knöchel –, » das ist nicht Ihre Schuld, wissen Sie.«
» Habe ich das gesagt?« Meine Stimme klang spitz; jahrelang hatte ich mir von Mum anhören müssen, dass ich dafür verantwortlich war. » Ich
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