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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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    Das Kamerateam baut im Garten die Technik auf. Sie sagen uns, wo wir uns hinsetzen und was wir tun sollen. Ich sitze zwischen meinen Eltern, die Rüschen meines Lieblingskleides bauschen sich. Wir tun so, als würden wir zusammen in einem Fotoalbum blättern– Charlie als Baby, dann als Kleinkind mit einem roten Dreirad, das ich wiedererkenne. Ich bin früher auch damit gefahren. Es steht noch im Schuppen, doch die Farbe ist inzwischen abgeblättert.
    Ich warte auf das erste Bild von mir, auf dem Charlie sich über mein Gitterbettchen beugt und mich anschaut. Ich weiß genau, auf welcher Seite es ist. Ich habe es schon unzählige Male betrachtet und versucht, mich in dem kleinen, runden, rotgesichtigen Bündel zu erkennen, das in eine Decke gewickelt ist, aus der eine winzige dicke Hand herausschaut. Mum blättert die Seiten langsam– viel zu langsam– um, hält ab und zu inne und seufzt. Als ich aufblicke, ist ihr Gesicht verzerrt vor Gram.
    Hinter der Kamera hervor kommt die Anweisung: » Und jetzt leg die Hand auf den Arm deiner Mutter, Sarah.«
    Ich gehorche und tätschle sie sacht. Ihre Haut fühlt sich kalt an, obwohl wir in der Hitze der Nachtmittagssonne sitzen. Sie zieht hastig ihren Arm weg, als hätte ich sie verbrannt. Zum ersten Mal begreife ich, dass ich sie niemals werde trösten oder glücklich machen können. Ich werde ihr niemals genügen.
    Dann, ohne Vorwarnung, schießen mir die Tränen in die Augen. Ich sitze da und weine mir die Seele aus dem Leib, als könnte ich nie mehr aufhören. In den Abendnachrichten sieht es aus, als würde ich um Charlie weinen. Nur ich allein weiß, dass es meinetwegen ist.

5
    Kurz nach dreizehn Uhr kam Andrew Blake ins Sekretariat der Schule, wohin mich Elaine abkommandiert hatte, da es nichts zu unterrichten gab. Meine Kollegen hockten im Lehrerzimmer herum und erledigten liegengebliebenen Papierkram. Das hatte ich ebenfalls vorgehabt. Doch zu meinem Pech war ich unterwegs Elaine in die Arme gelaufen und hatte zu meinem noch größeren Pech keine passende Ausrede parat gehabt, um ihren Aufträgen zu entgehen. Aber eigentlich hatte ich auch gar nichts dagegen. Den ganzen Morgen Post zu öffnen und Telefondienst zu schieben war nicht gerade anstrengend. Der einzige Wermutstropfen war eigentlich die Gegenwart von Janet, der Schulsekretärin. Diese spindeldürre Frau von Anfang fünfzig befand sich tagtäglich am Rande des Nervenzusammenbruchs, und zwar seitdem ich an der Edgeworth-Schule arbeitete. Schon unter normalen Umständen war sie eigentlich zu nichts zu gebrauchen, aber in der momentanen Situation war es ihr vollkommen unmöglich, etwas anderes zu tun, als tränenreich über ihre gesundheitlichen Probleme von damals bis heute zu palavern. Als ich ins Sekretariat kam und ihre entzündeten Augenlider und die gerötete Nase sah, wusste ich auf Anhieb, dass es keinen Sinn hatte, ihr ernsthaft zuzuhören. Es gelang mir so recht und schlecht, ihre Stimme auszublenden und mich in meine eigene Welt zurückzuziehen, während ich mechanisch einen Stapel Werbepost und Telefonnotizen durchging. Das Sortieren war eine geradezu therapeutische Beschäftigung. Janets Monolog plätscherte im Hintergrund unaufhaltsam wie ein Bach dahin. Wenn man nicht darauf achtete, was sie sagte, war es beinahe beruhigend.
    Als sich die Tür öffnete und Blake seinen Kopf hereinsteckte, brauchte ich einen Moment, um wieder in die Realität zurückzukehren. Janet plapperte gerade: » Und ich wusste natürlich sofort, dass es ein Bandscheibenvorfall war, denn ich hatte ja schon einmal einen gehabt… Kann ich Ihnen helfen?«
    Er strahlte sie an und ließ seinen ganzen Charme spielen. » Im Moment nicht, verbindlichsten Dank. Ich würde gern mit Miss Finch sprechen.«
    Ich stand auf und strich die Falten meines Kleides glatt, um Zeit zu gewinnen. Weshalb wollte er wohl mit mir sprechen? Bestimmt hatte es etwas mit Rachel zu tun. Ich ging in Richtung Tür, während mein Kopf von allerlei Erinnerungsfetzen an das, was ich zuvor Vickers hatte berichten wollen, nur so schwirrte.
    » Sind Sie lange weg?«, fragte es hinter mir. Janets Stimme klang frustriert und schrill. » Bei der Hektik sollte auf jeden Fall jemand von uns über Mittag hier sein.«
    Ich blieb stehen und schaute irritiert zwischen den beiden hin und her.
    » Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen«, sagte Blake freundlich, ohne sich von seinem Ansinnen abbringen zu lassen. » Es dauert nicht sehr lange.«
    Janet

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