Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
nur daran, weil ich den Shepherds helfen wollte. Was sollte es denn schaden, wenn ich versuchte zu tun, was ich tun konnte?
Mangels Publikum für meine unschlagbaren Argumente spürte ich bald Flaute in meinen Segeln und stand auf, um zu gehen. Nachdem ich den Müll aufgesammelt hatte, deutete bis auf ein bisschen plattgedrücktes Gras nichts mehr auf unsere Anwesenheit hin.
Fälschlicherweise hatte ich angenommen, dass mein neu erworbenes Mitgefühl für Mum einer direkten Begegnung mit ihr standhalten würde. Noch keine zwei Minuten war ich zu Hause, als das Mitleid in mir verdorrte und jäh wieder erstarb.
Ich war müde und verschwitzt nach Hause gekommen, wo mir der typische Geruch von verbrauchter Luft und muffigen Stoffen entgegenwehte. Kein Gedanke an frisch gebackenes Brot oder dampfenden Kaffee. Mum saß auf dem Sofa und blätterte in einem großen, in Lederimitat gebundenen Erinnerungsalbum, das ich auf den ersten Blick erkannte.
Diese Erinnerungsalben waren Großmutters Idee gewesen. Nach Charlies Verschwinden hatte sie Wochen und Monate damit zugebracht, stapelweise Zeitungen zu durchforsten und alles auszuschneiden, was auch nur annähernd mit ihm zu tun hatte. Das tat sie mit einem absonderlichen Stolz, als ginge es um eine bemerkenswerte und erinnerungswürdige Leistung von Charlie– wie etwa sportliche oder schulische Erfolge. Was sie sich eigentlich davon versprach, habe ich nie begriffen. Als Großmutter starb, erbte Mum diese Alben: drei schwere Bände, die knirschten, wenn man die vom Leim ganz steifen Seiten umblätterte. Ich hatte sie schon unzählige Male gesehen, aber nie genauer betrachtet. Zum einen, weil ich es nicht wollte, und zum anderen, weil Mum sie wie ihren Augapfel hütete. Sie hielt die Bücher an einem sicheren Ort verborgen– vermutlich unter ihrem Bett, obwohl ich mir nie die Mühe gemacht hatte, dort nachzusehen. Ausgelöst durch die jüngsten Ereignisse hatte sie sie offenbar wieder hervorgeholt und schwelgte nun in den alten Erinnerungen.
» Bin wieder da«, sagte ich überflüssigerweise und ging durchs Wohnzimmer in die Küche, wo ich ein Glas aus dem Schrank nahm und es mit Leitungswasser füllte. Das Wasser war lauwarm und schmeckte leicht metallisch, aber ich war so durstig, dass ich es in einem Zug austrank. Ich füllte es erneut, ging dann ins Wohnzimmer und blieb neben dem Sofa stehen. Mum schaute kurz auf und wandte sich dann wieder der vor ihr aufgeschlagenen Seite zu. Ich verdrehte den Hals und versuchte, die aus meiner Sicht auf dem Kopf stehende Überschrift zu entziffern. Daraufhin schlug sie das Buch mit einem solchen Knall zu, dass ich zusammenzuckte. Sie starrte mich wütend an.
» Was willst du?«
Ich zuckte die Schultern. » Nichts. Ich habe nur geschaut.« Zögerlich ließ ich mich auf der Armlehne des Sofas nieder. » Geht es da um Charlie?«
Es fühlte sich an wie ein Stromschlag, als diese Worte meinen Mund verlassen hatten. Ich sprach seinen Namen sonst nie aus, vor allem nicht in Mums Gegenwart. Es gibt zwei Dinge, die man nicht zurückholen kann, hatte einmal eine alte Lehrerin unserer Klasse erklärt, den abgeschossenen Pfeil und das ausgesprochene Wort. Unsicher wartete ich auf ihre Reaktion.
Nach kurzem Zögern antwortete Mum recht gefasst: » Ich blättere nur ein bisschen darin.« Sie tätschelte das Album, das auf ihren Knien lag.
» Kann ich mal sehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff ich nach einem der dicken Alben auf dem Couchtisch. Wir könnten sie gemeinsam ansehen. Vielleicht könnten wir auf diese Weise mehr Verständnis füreinander entwickeln. Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass ich sie überhaupt nicht kannte. Vielleicht war das ja unser Grundproblem.
Das Album lag ein bisschen zu weit von mir entfernt, deshalb schob ich einen Finger unter den Buchrücken und versuchte es zu mir heranzuziehen. Doch der Buchdeckel klebte am darunterliegenden Album fest. Mit einem Ruck versuchte ich die beiden Bücher voneinander zu lösen. Und da passierte es: Die Plastikbindung gab nach, und es entstand ein hässlicher, ausgefranster Riss, der sich am Falz des Einbandes ungefähr fünf Zentimeter nach oben zog. Durch den Riss hindurch wurde das darunter befindliche Papier sichtbar, das sich schneeweiß vom schokoladenbraunen Einband abhob. Ich erstarrte.
Mum beugte sich nach vorn, nahm das Album an sich und strich wortlos mit den Fingern über die beschädigte Stelle.
» Es… es tut mir leid«, stammelte ich, aber sie schaute
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