Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
weiß, dass es einfach ein Unglück war. Es hätte nicht passieren dürfen, aber es ist nun mal geschehen. Niemand hätte gedacht, dass es Mum so mitnehmen würde, denn sie hatten ja schon zwei Jahre getrennt gelebt. Aber sie war vollkommen am Boden zerstört.«
» Vielleicht hat sie ihn ja noch geliebt. Wie kam es denn zur Trennung?«
» Dad hat sie verlassen. Aber sie hat auch wirklich alles dafür getan.« Ich schüttelte den Kopf. » Ich weiß doch, wie sie mit ihm geredet und was sie über ihn gesagt hat. Sie hasste ihn.«
» Hat sie ihren Ehering abgelegt?«
» Was?«
» Hat sie ihn nicht mehr getragen– nach der Scheidung?«
» Doch. Sie trägt ihn sogar immer noch.«
Blake zuckte die Schultern. » Dann liebt sie ihn auch noch.«
Ich dachte einen Augenblick lang darüber nach und spürte meinen Widerwillen, Mum irgendetwas zugutezuhalten. Aber vielleicht hatte er ja tatsächlich Recht. Und zum ersten Mal seit Jahren empfand ich aufrichtiges Mitleid mit meiner Mutter, die sich ihr Leben so ganz anders vorgestellt hatte und nicht klarkam mit dem Elend, das über sie gekommen war, und die sich eigentlich nur noch die ganze Welt vom Halse halten wollte.
Blake hatte sich wieder auf den Rücken gedreht und schloss die Augen. Mein Knöchel prickelte noch an der Stelle, wo seine Hand ihn berührt hatte. Völlig ohne nachzudenken, platzte ich heraus: » Wieso haben Sie eigentlich keine Freundin?«
Grinsend drehte er sich zu mir um. » Meine Arbeitszeiten sind katastrophal, schon vergessen? Das hält keine lange aus.«
» Ja, klar.« Viel wahrscheinlicher fand ich allerdings, dass er in dieser Hinsicht einen beträchtlichen Verschleiß hatte– an willigen Kandidatinnen mangelte es ja offenbar nicht. Doch das hatte ich nicht nötig. Ich hatte nicht vor, mich in die Warteschlange einzureihen. » Apropos Arbeit, ich sollte langsam wieder zurück; Janet wird schon fuchsteufelswild sein.«
Ich erwartete ein amüsiertes Lachen, doch seine Reaktion war ernst. Stirnrunzelnd setzte er sich auf. » Sarah , was diesen Fall betrifft… Seien Sie bitte vorsichtig. Halten Sie sich aus den Ermittlungen raus. Versprechen Sie mir das.«
Ich spürte, wie meine Miene erstarrte. » Was meinen Sie damit?«
» Schauen Sie, Sie sind ein anständiger Mensch. Sie fühlen sich für vieles verantwortlich, selbst wenn es vielleicht nicht immer gut ist. Aber das hier– das hier ist eine Sache, aus der Sie sich unbedingt heraushalten sollten.«
» Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.« Aus Verlegenheit begann ich die Sandwichtüte sauber zusammenzufalten.
» Also, wie soll ich das erklären? Sie waren uns ja durchaus eine Hilfe. Das war wirklich toll. Aber Sie waren von Anfang an ein bisschen zu nahe dran an dem Fall. Ich mag Sie, Sarah, und ich will nicht, dass man Sie verletzt.«
Einerseits nervte mich sein Gerede, andererseits hätte ich zu gern gewusst, wie er das mit dem Mögen wohl gemeint hatte. Mochte er mich richtig, oder mochte er mich einfach so? Doch ich verbannte diese Frage vorerst aus meinen Gedanken und versuchte mich auf Wichtigeres zu konzentrieren: » Wie könnte man mich denn verletzen?«
» Da gibt es einige Möglichkeiten.« Blake stand auf und schaute zu mir hinunter. Die Sonne stand in seinem Rücken, sodass sich seine Silhouette vor dem strahlend blauen Himmel abzeichnete. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht erkennen. » In Fällen wie diesem bekommt früher oder später immer jemand die Schuld zugeschoben. Noch ist die Lage ruhig, aber wenn wir nicht bald Ergebnisse präsentieren, werden die Leute anfangen, Fragen zu stellen und darüber zu spekulieren, wem eigentlich etwas aufgefallen sein müsste. Glauben Sie mir, wenn die Leute erst mal anfangen, neugierig zu werden, ist es echt nicht ratsam, in ihrem Blickfeld zu stehen.«
» Kann ich mir ehrlich gesagt kaum vorstellen.«
» Ich habe es selbst schon miterlebt«, erwiderte Blake. » Kümmern Sie sich einfach wieder um Ihren Job, Sarah. Versuchen Sie nicht, unsere Arbeit zu machen. Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein.«
Sprachlos schaute ich ihn an, woraufhin er plötzlich linkisch auf seine Uhr sah und sagte: » Ich sollte jetzt besser gehen. Danke für die gemeinsame Mittagspause.«
Ich sah ihm nach, wie er mit gesenktem Kopf über die Wiese davonging. Mein Hals tat mir weh, als ob ich gleich weinen müsste, aber was ich empfand, war eher Wut. Schließlich war er ja zu mir gekommen. Dass ich mit Rachel gesprochen hatte, lag doch
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