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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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meiner erhitzten Haut aus. Als ich mich nach meiner Tasche bückte, die auf dem Boden stand, entfuhr mir ein leises Ächzen. An bestimmten Stellen meines Körpers begann sich ein leicht wundes Gefühl bemerkbar zu machen. Anfänglich war er ganz behutsam gewesen und war dann immer stürmischer geworden, was ich jedoch als Kompliment aufgefasst hatte. Unwillkürlich ließ ich die letzten Stunden immer wieder in meinem Kopf Revue passieren, insbesondere da ich sie für einen einmaligen Ausrutscher hielt. Was sollte es auch sonst gewesen sein? Er hatte völlig Recht, eigentlich war ich für ihn tabu. Ein nächstes Mal war ausgeschlossen.
    Auf dem Weg zur Wohnungstür bekam ich mich im Flurspiegel kurz zu Gesicht und erkannte mich kaum wieder: Der Lidstrich unter den Augen war total verschmiert und meine Frisur ein einziges Chaos. Mit den Fingern versuchte ich notdürftig, meine Locken zu entwirren. Viel konnte ich im Augenblick nicht tun– nur froh sein, dass mich um diese Zeit höchstwahrscheinlich niemand sehen würde. Wie ich erstaunt feststellte, war es schon nach ein Uhr morgens, und ich fragte mich, wo ich die Zeit wohl vergessen hatte– wissend, dass es nur in Andy Blakes Armen gewesen sein konnte, beim ersten Mal oder vielleicht auch beim zweiten.
    Ich zog die Tür hinter mir zu, wagte es jedoch nicht, sie richtig ins Schloss fallen zu lassen, weil ich fürchtete, er könne von dem Geräusch aufwachen. Ich hoffte einfach, dass schon kein Einbrecher kommen werde. Zu aufgewühlt, um auf den Fahrstuhl zu warten, lief ich die Treppen hinunter. Ich konnte ihn noch spüren, auf mir und in mir, als ich das Auto aufschloss. Bevor ich den Motor anließ, hielt ich einen Moment inne. Ich betrachtete meine Hände auf dem Lenkrad, als sähe ich sie zum ersten Mal. Es wäre besser gewesen, wenn ich vor dem Gehen noch kurz mit ihm gesprochen hätte. Mich so hinauszuschleichen war die beste Garantie für eine unbehagliche nächste Begegnung. Doch im Moment war ich von zu viel Realität schlichtweg überfordert. Ich hätte es nicht ertragen, beim Aufwachen Reue in seinem Gesicht zu lesen. Was wir getan hatten, ging keinen etwas an. Solange er es für sich behielt, würde ich das auch tun. Niemand brauchte je davon zu erfahren.
    Als ich von der Hauptverkehrsstraße in die Wilmington-Siedlung einbog, entschloss ich mich spontan, nicht auf direktem Wege nach Hause zu fahren. Es gab da etwas, das ich schon länger vorhatte, und jetzt war der ideale Zeitpunkt, es unbeobachtet zu tun. Statt links in unsere Straße einzubiegen, fuhr ich auf der Hauptstraße weiter, die sich durch die ganze Siedlung schlängelt. Im grellen Orange der Straßenbeleuchtung wirkten die Häuser zu beiden Straßenseiten wie verlassen. Nichts regte sich, und für einen Moment fühlte ich mich wie das einzige lebendige Wesen in der gesamten Siedlung und in ganz Elmview. Ich bog rechts ab, dann noch einmal rechts und folgte einer mir dunkel erinnerlichen Strecke bis zu einem kleinen, offenen, von Häusern umstandenen Platz, wo die weitsichtigen Architekten der Dreißigerjahre den Kindern ein Fleckchen zum Spielen übrig gelassen hatten. Einmal hatten meine Eltern uns dorthin zu einem Feuerwerk mitgenommen, und ich hatte geweint, weil die Raketen so furchtbar laut gewesen waren. Ganz in der Nähe vermutete ich die Straße, die ich suchte, namens Morley Drive. Ich irrte noch ein wenig umher und bog ein paarmal falsch ab, aber die grobe Richtung stimmte, und schließlich erspähte ich das Straßenschild. Ich fuhr die schmale Fahrbahn entlang und suchte mit den Augen beide Straßenseiten ab, bis ich ein auf dem Fußweg geparktes Polizeiauto sah. Das muss vor Jennys Haus stehen, dachte ich mir und hielt nach einer Parklücke Ausschau. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur ein paar Meter von dem Polizeiauto entfernt, entdeckte ich tatsächlich eine und fuhr hinein.
    Das rote Backsteinhaus kannte ich aus den Nachrichten– es tatsächlich vor mir zu sehen, kam mir befremdlich vor. Alle Vorhänge waren zugezogen und gaben nichts über die Bewohner preis. Ich fragte mich, ob die Shepherds im Moment dort wohnten oder vor dem Medienansturm auf neutrales Gebiet geflohen waren. Im gelblichen Schein der Straßenlaternen wirkte das Haus unberührt, die Wände sauber gestrichen, die Hecke geschnitten, der Kirschbaum im Vorgarten noch immer in voller Blüte. Aber bei genauerem Hinsehen fiel mir auf der Veranda ein großes, selbstgemachtes Blumengesteck auf und daneben

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