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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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ein weiterer, auf dem Boden liegender Strauß. Das Gras wucherte über die Einfahrt, offenbar war das Rasenmähen schon mehrfach verschoben worden. Wer weiß, ob und wann sich die Shepherds über solche Dinge wieder Gedanken machen konnten. Wen kümmert es noch, wie ein Haus aussieht, wenn das Wichtigste darin fehlt?
    Ich saß im Auto und betrachtete das Grundstück, ohne zu wissen, worauf ich eigentlich gehofft hatte. Ich wollte einfach nur dort sein und mit eigenen Augen sehen, in welch unmittelbarer Nähe von mir Jenny ihr kurzes Leben gelebt hatte, um meinen Respekt zu zollen und ein Gefühl für die Trauer der Shepherds zu entwickeln, wie für meine eigene. Die kleinen Anzeichen der Vernachlässigung, die ich von meinem Standort aus erkennen konnte, wirkten wie Flecken auf einer überreifen Birne, wie Hinweise auf tief reichende Verderbnis. Für den Makel in ihrer Tochter hatte es keine äußeren Anzeichen gegeben, gleichwohl war er da, und wenn die Presse erst davon erfuhr, würden die Shepherds ihre Jenny noch einmal verlieren. Es schauderte mich, wenn ich an das nette Mädchen mit dem Doppelleben dachte– Traum eines jeden Boulevardschreiberlings und Albtraum einer jeden gutbürgerlichen Mutter. Arme Jenny mit ihrem unschuldigen Gesicht und ihren Erwachsenensorgen. Sie war ein Einzelkind gewesen. Schmälerte das die Chancen der Shepherds, eines Tages darüber hinwegzukommen? Zählte es für sie, dass sie einander hatten? Vielleicht half es ihnen ja, wenn man herausfand, was Jenny zugestoßen war und wer dafür verantwortlich war. Das Nichtwissen war es schließlich, das meine eigene Familie zerfressen hatte. Meine Eltern hatten sich entzweit statt zusammenzurücken, und in die Kluft zwischen ihnen war ich gefallen.
    Irgendwo in meinem Hinterkopf begann sich ein Gedanke zu formen– eine Idee. Ich hatte so lange Zeit nicht mehr an Charlie gedacht, ihn völlig aus meinem Leben verbannt. Ich hatte versucht, ihn zu vergessen, und das machte es umso schwerer, mit seiner Abwesenheit zu leben. Es war an der Zeit, mich dem, was ihm widerfahren war, zu stellen. Wenn ich es nicht tat, würde es niemand anders tun. Freilich war nicht damit zu rechnen, dass sich die Polizei bei einem Fall als hilfreich erwies, der schon vor sechzehn Jahren im Sande verlaufen war. Ich konnte nicht erwarten, dass sich noch jemand dafür interessierte. Aber mir bedeutete er noch sehr viel, wie ich mir selbst eingestehen musste. Jennys Tod fand seinen Nachhall in meinem Leben. Ich musste diverse Antworten finden oder mir zumindest sagen können, dass ich es versucht hatte. Ich wollte Jennys Eltern helfen, doch dabei war ich selbst es, der ich helfen musste. Und niemand sollte mir bitteschön einreden, dass ich dazu nicht in der Lage sei– wobei sich bei dem Gedanken an Blakes wenige Stunden alte Warnung meine Wangen röteten. Die Sache war ein paar Nachforschungen sehr wohl wert. Zugegebenermaßen war es eher unwahrscheinlich, dass ich den Fall löste, doch für mich war es an der Zeit, endlich zu verstehen, was meinem Bruder zugestoßen war. Die reinen Fakten waren mir wohlvertraut, aber ohne Zweifel gab es diverse Zwischentöne, die zu verstehen ich seinerzeit einfach zu jung gewesen war. Ganz davon zu schweigen, dass seit 1992 einiges an Wasser die verschiedensten Flüsse hinabgeflossen war. Es konnte schließlich nicht schaden, einen Blick darauf zu werfen, ob sich eine Verbindung zwischen Charlies Verschwinden und anderen seither in der Gegend verübten Verbrechen herstellen ließ. Vielleicht stieß ich ja auf etwas, das alle anderen übersehen hatten.
    Es gefiel mir, diesen Vorsatz zu fassen. Zum zweiten Mal in jener Nacht hatte ich das Gefühl, das Heft in die Hand zu nehmen. Im Morley Drive hatte ich derweil genug gesehen. Mit einem letzten Blick auf das Haus der Familie Shepherd drehte ich den Zündschlüssel um. Der Motor hustete röchelnd und erstarb. Mit einem leisen Fluch versuchte ich es erneut und dann noch einmal, in dem schmerzhaften Bewusstsein, was für einen entsetzlichen Lärm ich dabei verursachte. Das Auto schepperte noch ein paarmal sinnlos und gab schließlich auf. Frustriert schlug ich aufs Lenkrad, und obwohl das herzlich wenig nützte und mir ziemlich wehtat, fühlte ich mich danach etwas besser. Es war nicht das erste Mal, dass mich mein Auto im Stich ließ, aber dieser Tag war dafür wirklich denkbar ungeeignet. Zu dieser nachtschlafenden Stunde war nicht daran zu denken, den Pannendienst anzurufen. Das hätte

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