Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
vor, ich gehe aus dem Zimmer und lasse meine Papiere hier liegen, und eine andere Polizistin kommt rein und zerreißt sie. Wenn ich dann wiederkomme und frage: › Wer hat meine Papiere zerrissen? ‹ und die Polizistin sagt: › Das war Sarah ‹ , was wäre das dann?«
» Eine Lüge«, sage ich wieder.
» Aber wenn die andere Polizistin sagen würde: › Ich habe sie zerrissen ‹ , was wäre das?«
» Die Wahrheit.«
» Genau. Und wenn wir uns hier unterhalten, dann geht es nur um die Wahrheit. Wir wollen nur das hören, was wirklich passiert ist, okay?«
Aber das stimmt gar nicht. Sie wollen gar nicht hören, dass ich nichts weiß. Sie wollen mir nicht glauben, dass ich eingeschlafen war und Charlie wirklich nicht gefragt habe, wo er hingeht. Alle wollen von mir, dass ich die Wahrheit sage, aber sie wollen eine bessere Wahrheit hören als die, die ich ihnen erzählen kann, aber das geht doch gar nicht.
Die Fragen sind immer die gleichen: was ich gesehen habe, was ich gehört habe, was Charlie gesagt hat, wann er gegangen ist, ob noch jemand dabei war. Ich antworte vollkommen mechanisch, ohne viel über meine Antworten nachzudenken.
Dann beugt sich Helen urplötzlich nach vorn und fragt mich: » Versuchst du etwas zu verbergen, Sarah? Willst du jemanden beschützen?«
Ich schaue auf, und mir ist kalt. Wovon redet sie?
» Wenn jemand von dir verlangt hat, uns etwas zu erzählen, das nicht wahr ist, kannst du mir das sagen.« Ihre Stimme ist ruhig und sanft. » Hier bist du sicher. Dir passiert nichts.«
Wortlos sehe ich sie an. Ich kann nicht antworten.
» Manchmal werden wir von anderen gebeten, ein Geheimnis zu bewahren, stimmt’s, Sarah? Möchte vielleicht jemand, den du lieb hast, dass du ein Geheimnis für dich behältst? Hat deine Mama dich gebeten, uns etwas nicht zu sagen?«
Ich schüttele den Kopf.
» Und was ist mit deinem Papa? Hat er dir gesagt, du sollst so tun, als ob etwas passiert ist, obwohl das gar nicht stimmt, oder dass du etwas abstreitest, was eigentlich doch geschehen ist?«
Wieder schüttele ich den Kopf, während ich sie anschaue. Mir fällt auf, dass sie nicht zwinkert. Sie starrt mich unverwandt an.
Nach einer Weile lehnt sie sich zurück. » Na gut, wir fangen noch mal an, ja?«
Ich antworte auf Helens Fragen so gut ich kann und flechte dabei zwei richtig schöne Zöpfe aus den roten Wollhaaren. Immer wenn ich sie fertig geflochten habe, kämme ich die Haare wieder auseinander, damit ich von vorn anfangen und es noch besser machen kann, bis die Zöpfe perfekt sind. Als Helen endlich aufgibt, habe ich die Stoffpuppe mit dem verblichenen, freundlichen Gesicht schon beinahe gern. Ich bin ein bisschen traurig, dass ich sie in dem muffigen kleinen Zimmer lassen muss, als ich sie wieder ganz oben auf den Spielzeughaufen lege. Unterdessen steht Helen an der Tür und klickt nervös mit dem Kugelschreiber. Ihr Lächeln ist längst verschwunden.
6
Später, geraume Zeit später, war Blake eingeschlafen. Selbst im Schlaf hatte er sich unter Kontrolle; sein Gesichtsausdruck war ernst und beherrscht. Ich richtete mich auf, stützte mich auf den Ellbogen und betrachtete ihn eine Zeitlang. Schlafen mochte ich noch nicht. Und ich hatte auch keine Lust, am nächsten Morgen aufzuwachen und mich, bei Tageslicht besehen, unerwünscht zu fühlen. Es war besser, wenn ich ging, ehe er befand, dass ich gehen solle.
Ich schob die Decke zurück und stahl mich aus dem Bett– ganz leise, um ihn nicht aufzuwecken– und machte mich im halbdunklen Schlafzimmer auf die Suche nach meinen Sachen. Meine Knie waren weich, und ich fühlte mich wie beschwipst. Jeans und Slip fand ich zusammen an der Stelle, wo ich sie ausgezogen hatte– oder war er es gewesen? Ich wusste es nicht mehr– doch mein BH war verschwunden. In größer werdenden Radien tastete ich mit den Händen über den Teppich, fand aber auf dem weichen, glatten Flor nur den Verschluss eines Ohrsteckers, der nicht zu mir gehörte. Leicht gequält lächelte ich in mich hinein. Ich hatte mir doch nicht wirklich eingebildet, dass Blake sich in seinem Schlafzimmer zum ersten Mal weiblicher Gesellschaft erfreut hatte. Ich ließ den Verschluss auf dem Teppich liegen und kroch hinaus in den Flur, wo mein Oberteil als Knäuel auf dem Boden lag. Noch immer keine Spur von meinem BH. Ich würde wohl oder übel darauf verzichten müssen. Die dünne Seide des Oberteils fühlte sich kühl an, und beim Überstreifen breitete sich ein kalter Schauer auf
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