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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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schlechte Wetter. Gegenüber der Kirche waren massenhaft Kameras versammelt, die den Besucherstrom in das Gotteshaus filmten. Doch unter meinem Regenschirm war ich sicher und anonym. Der Schirm schützte mein Gesicht vor neugierigen Blicken, die den unter der dicken Schminkschicht unzureichend verborgenen blauen Fleck direkt über meinem Wangenknochen hätten bemerken können.
    Ich stellte meinen tropfenden Schirm zu den zahllosen anderen in einen Ständer im Vorraum, betrat vorsichtig die Kirche und schaute mich um. Hier war ich schon lange nicht mehr gewesen. Die Grundmauern von St. Michael’s waren viele hundert Jahre alt, dennoch hatte die Kirche optisch nicht allzu schwer an ihrer Geschichte zu tragen. An den Wänden konkurrierten uralte Gedenktafeln und Grabmale längst vergessener Gemeindemitglieder mit Plakaten über christliche Nächstenliebe und die Armut in den Entwicklungsländern. Ein in den Siebzigerjahren hinzugekommenes, quietschbuntes Glasfenster bildete einen krassen Stilbruch angesichts des alten grauen Gesteins ringsum. Einen Teil des linken Seitenschiffs hatte man verglast, um quengelnden Kindern und ihren leidgeprüften Eltern während des Gottesdienstes Zuflucht zu gewähren. Doch glücklicherweise waren die alten, durch Türchen abgeschlossenen Kirchenbänke unverändert geblieben. Auf dem ausgetretenen, im Laufe der Jahrhunderte von den Füßen der Gläubigen glatt polierten Steinfußboden klangen meine Schritte gedämpft, als ich zum rechten Seitenschiff humpelte und dort Ausschau nach einem unauffälligen Sitzplatz hielt. Das war gar nicht so einfach, denn obwohl der Gottesdienst erst in einer Viertelstunde beginnen sollte, waren die Bänke bereits fast vollständig besetzt.
    Unter den Anwesenden erkannte ich einige Eltern aus unserer Schule und Jennys Mitschülerinnen, hastete jedoch vorbei, noch ehe sie Notiz von mir nehmen konnten. Trotz meiner neuen, hüpfend-humpelnden Gangart kam ich recht schnell vom Fleck. Für den Fall, dass sich jemand erkundigte, was mir zugestoßen sei, hatte ich zwar eine kleine Geschichte parat, wollte aber nach Möglichkeit allen Nachfragen aus dem Weg gehen. Durch den Regen war es draußen so düster geworden, dass die Stimmung an diesem Frühlingsnachmittag eher an einen Winterabend erinnerte. Obendrein war die Kirche nicht sonderlich gut beleuchtet– welch ein Segen. Ich setzte mich in eine der vorderen Bänke neben zwei ältere, angeregt plaudernde Damen. Sie rückten ein Stück, um mir Platz zu machen, nahmen aber ansonsten keine Notiz von mir. Perfekt.
    Als ich mich umschaute, sah ich eine kleine Gruppe von Kollegen inmitten des Hauptschiffs sitzen. Sie unterhielten sich und sahen müde und unglücklich aus. Letzteres hatte vermutlich weniger mit Trauer zu tun, als mit ihrem Unmut darüber, dass sie hierher abkommandiert waren. Von meinem Platz aus sah ich, wie sie ungeduldig und mit gerunzelter Stirn auf die Uhr schauten.
    Elaine selbst saß in der ersten Reihe neben dem stellvertretenden Direktor, der zu diesem Anlass sogar eine Krawatte hervorgekramt hatte. Elaine war extra beim Friseur gewesen und trug Lippenstift. Offensichtlich hielt sie das für eine Gelegenheit, um Eindruck zu schinden. Die kleine alte Dame neben mir hatte ein A4-Blatt mit dem Gottesdienstablauf in der Hand, das ich am Eingang übersehen hatte. Ich fragte mich, ob die arme Janet das wohl alles allein hatte kopieren und falten müssen. Wenn ich ein wenig hinüberschielte, konnte ich die Schrift gerade so entziffern. Demnach würde Elaine eine Lesung halten und später der Schulchor singen.
    Auf dem Weg zur Kirche hatte ich einen höflichen Hinweis gesehen, mit dem die Medien gebeten wurden, die Privatsphäre der Anwesenden zu respektieren und dem Gottesdienst fernzubleiben. Doch zumindest eine Journalistin hatte diese Bitte offenbar ignoriert. Allerdings musste ich ihr zugutehalten, dass sie sich darauf berufen konnte, selbst zur Gemeinde zu gehören. Carol Shapley saß in der zweiten Reihe, direkt hinter der Bank, die für die Shepherds reserviert war. Sie hatte ihre Arme um zwei Teenager– vermutlich ihre Kinder– gelegt und sah aus, als könne sie kein Wässerchen trüben. Aber mir entging nicht, dass sie sämtliche Details in Kirche und Gemeinde sorgfältig registrierte. Ihr Kopf drehte sich ständig in alle Richtungen, wie bei einer Eule. Dieser Frau würde nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen, und die Lokalzeitung bekam wieder mal einen Exklusivbericht.
    Aus dem

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