Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
verschwunden. Eine dunkle Hose. Seine Jacke war aus wetterfestem Material. Dazu Lederhandschuhe. Ansonsten nichts Besonderes, nichts, das Rückschlüsse auf seine Identität zugelassen hätte. Ich konnte also auf der Straße an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu erkennen.
Das einzig Charakteristische, woran ich mich erinnern konnte, war die Geruchsmischung: Zigaretten und Motorenöl. Aber das war nicht gerade unverwechselbar. Das Motorenöl konnte von überallher stammen; Öllachen von parkenden Autos gab es en masse auf der Straße. Wenn er in eine hineingetreten war, konnte der Geruch bereits recht lange anhaften. Das war mir selbst schon passiert.
Aber was mir am meisten zusetzte, war nicht meine Angst, sondern der Ärger darüber, dass ich nicht besser aufgepasst hatte und so unvorsichtig gewesen war. Wenn er mich hätte vergewaltigen oder umbringen wollen, was hätte ihn davon abhalten können? Ganz bestimmt nicht ich, denn ich hatte mich ja nicht einmal wehren können. Wenn ich ihn rechtzeitig bemerkt hätte, hätte ich vielleicht noch weglaufen oder laut schreien können, um die Nachbarn aufzuwecken. Natürlich war es völlig zwecklos, sich mit all diesem » wenn« und » hätte« herumzuplagen, aber ich konnte einfach nicht anders, während mein Arm die ganze Zeit über missmutig pulsierte. Die Leuchtzeiger krochen träge über das Ziffernblatt der Nachttischuhr, und meine Gedanken kreisten unaufhörlich um das Wer und Warum dessen, was ich erlebt hatte, und kamen der Antwort doch kein Stück näher.
Erst kurz vor Tagesanbruch fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf und wachte erst weit nach meiner üblichen Aufstehzeit mit verquollenen Augen, Halsschmerzen und einem Gesicht auf, das sich anfühlte, als hätte es jemand mit der Zickzackschere abgeschnitten und anschließend mehr schlecht als recht wieder angetackert. Beim Gang ins Badezimmer musste ich feststellen, dass ich humpelte. Mein Knie war steif und ließ sich nur widerwillig beugen. Es war teigig angeschwollen und geprellt– das war allerdings gar nichts im Vergleich zu meiner höchst interessant getönten Schulter. Ich konnte den Arm nach wie vor nicht über Schulterhöhe anheben, und beide waren kräftig eingefärbt– von violett bis blauschwarz an der empfindlichsten Stelle. Die Prellung erstreckte sich vom Unterarm bis zur Mitte des Oberarms, sah aus wie die Tätowierung eines Hafenarbeiters und war ausnehmend schmerzhaft. Mein Anblick im Spiegel war erbärmlich. Ich fühlte mich entsetzlich erschöpft und viel zu zerschlagen, um auch nur daran zu denken, in die Schule zu fahren.
Also tappte ich mühsam die Treppe hinunter zum Telefon und rief im Sekretariat an, wo jedoch unglücklicherweise Elaine statt Janet abnahm. Gequält gab ich meine Entschuldigung durch und hoffte, dass sie sich nicht allzu sehr nach einer Lüge anhörte. Schließlich war Elaine von Natur aus skeptisch und ließ sich nicht so schnell einen Bären aufbinden. Daher verkaufte ich ihr meine entsetzlichen, kaum auszuhaltenden Kopfschmerzen, die mir das Kommen unmöglich machten so engagiert, als ginge es um mein Leben. Sie hüstelte vielsagend, und es kam mir so vor, als sei ich keineswegs die Einzige, die sich an diesem Tag krank meldete. Mit nochmals gesteigertem Tremolo beschrieb ich ihr die Übelkeit, unter der ich ebenfalls litt, woraufhin sie meine Abmeldung widerwillig akzeptierte.
» Aber in die Kirche müssen Sie trotzdem kommen. Heute Abend findet in St. Michael’s ein Gedenkgottesdienst für Jenny Shepherd statt, bei dem ich alle Lehrer dabeihaben will.«
» Wann fängt er denn an?«
» Um sechs. Ich will doch hoffen, dass Ihre Kopfschmerzen bis dahin nachgelassen haben.«
Ich überhörte ihren sarkastischen Tonfall, versprach, anwesend zu sein, und legte auf. Wie um alles in der Welt sollte ich es hinbekommen, in nur zehn Stunden wieder einigermaßen präsentabel auszusehen? Eine Portion Schlaf war zunächst wohl die beste Lösung. Ich schrieb Mum einen Zettel, dass ich heute nicht zur Arbeit müsse und bitte nicht gestört werden wolle. Dann schlich ich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Mum lag noch immer auf dem Sofa und rührte sich nicht. Im Zimmer roch es widerlich nach Alkoholdunst und verbrauchter Luft; es war düster und stickig warm. Ich platzierte den Zettel gut sichtbar und stahl mich wieder hinaus.
Die Treppe kam mir länger und steiler vor als sonst, während ich mich mit Hilfe des Geländers nach oben quälte. Meine Glieder schmerzten, und
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