Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
zuvor offenbar nicht nachgedacht hatte. Meine Aufmerksamkeit entschwand erneut.
» Und nun lade ich den Rest von Jennifers Klasse ein, zum Altar zu kommen und das Ausgangslied zu singen«, verkündete er mit belegter Stimme und wartete, während die Mädchen von überallher aus der Kirche kamen. Sie wirkten selbstbewusst und gingen betont langsam, um keinesfalls als Erste vorn anzukommen. Manche von ihnen hatten schon die Größe von Erwachsenen und wirkten vom Äußeren und Auftreten her wesentlich älter als ihre Mitschülerinnen– dem aktuellen Emo-Trend folgend mit stilgerecht gescheiteltem, schwarzem Haar und viel schwarzem Eyeliner um die Augen. Aber es gab auch welche, die noch zart und schutzbedürftig aussahen wie Jenny– zierliche Mädchen mit kindlichem Gesicht. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: die starre, verstörte Miene.
» Bitte fasst euch an den Händen…«, forderte der Pfarrer sie auf, was Jennys Mitschülerinnen auch folgsam taten. Die Chorleiterin tänzelte vor den Altar und nickte der Organistin zu. Aus einem langen Eingangston entwickelten sich die ersten Takte von » Amazing Grace«. Die Mädchen waren absolut textsicher. Sie hatten das Lied vor ein paar Monaten für ein Schulkonzert einstudiert. Ich fragte mich, wie es den Eltern wohl ging, als sie ihre Kinder dort vorn sahen. Waren sie ganz krank vor Angst angesichts der Vorstellung, dass es auch ihre Tochter hätte sein können, die dort vorn in der Reihe fehlte? Oder insgeheim dankbar, dass es nicht so war? Wer hätte ihnen das verdenken können?
Noch während des Gesangs, noch ehe Bewegung in die Gemeinde kam, begleiteten Vickers und Valerie die Shepherds hinaus. Ich fragte mich, wem dieser Gottesdienst eigentlich hatte helfen sollen. Beim Hinausgehen sahen die Shepherds jedenfalls genauso hilflos und leidvoll aus wie beim Hereinkommen.
Jemand zupfte mich am Ärmel. Es waren die beiden alten Damen, die aufbrechen wollten. Ich stand auf, damit wir alle drei in den Gang treten konnten. Zumindest war das mein Plan, der allerdings gleich zweifach durchkreuzt wurde. Zum einen gab augenblicklich mein Knie nach, als ich es zu belasten versuchte, sodass ich mich an eine Säule lehnen und abwarten musste, bis die Welt aufhörte, sich im Kreis zu drehen. Und zum anderen nutzte Geoff umgehend seine Chance und stürzte auf mich zu.
» Na du«, säuselte er und kam mir viel zu nahe. Ich fühlte mich wehrlos und angreifbar wie das schwächste Tier der Herde, und ich hatte den Eindruck, dass ihm das nicht entging. Er breitete seine Arme aus und umarmte mich überschwänglich. Der Druck auf meinen Arm verursachte stechende Schmerzen von der Schulter bis hinauf zum Hals, dass es mir den Atem verschlug. Geoff schaute prüfend zu mir herab. » War alles ein bisschen viel auf einmal, oder? Hat es dich sehr mitgenommen?«
» Geht schon«, murmelte ich, löste mich von der Säule und steuerte auf die Tür zu. Doch genau das wollten natürlich alle anderen auch gerade. Ich musste also wohl oder übel warten, während sich die Menge quälend langsam durch die zweiflügelige Tür drängte wie Rinder am Markttag. Geoff folgte mir selbstverständlich auf dem Fuße, und zwar so dicht, dass ich seinen Atem im Nacken spüren konnte. Ich arbeitete mich zu einer nicht existierenden Lücke vor und schob mich durch die Menge, um ein wenig Abstand zu gewinnen.
» Ich glaube, du kannst einen Drink gebrauchen«, raunte er mir ins Ohr und drängte ebenfalls vorwärts, was sämtliche meiner vorherigen Anstrengungen wieder zunichtemachte. » Na komm, wir suchen uns ein gemütliches Plätzchen.«
» Nein danke, ich will lieber nach Hause.« Mein Knie schmerzte heftig, und mir war ganz übel. Selbst wenn ich noch hätte ausgehen wollen– und den zutiefst unwahrscheinlichen Gedanken erwogen hätte, dies in Geoffs Begleitung zu tun–, fühlte ich mich einfach nicht danach. Im nächsten Augenblick ging ich fast an die Decke, als sich zwei schwere Hände auf meine Schultern legten und anfingen, sie zu kneten. Offenkundig fühlten sie sich magisch angezogen von der Stelle, die am schmerzempfindlichsten war. Ich befreite mich aus seinem Griff und drehte mich zu ihm um, während ich eine Hand schützend auf meine Schulter legte, falls er es erneut versuchen sollte. » Geoff, lass das um Himmels willen!«
» Du bist so verspannt«, flüsterte er. » Beruhige dich doch.«
» Hör auf, mich zu malträtieren!«
Er hob die Hände. » Okay, weil du es bist. Was ist denn
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