Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Aber als ich endlich zum Tresen vorgerückt war, wusste ich nicht so recht, was ich sagen wollte. Die Bibliothekarin war blutjung und gab sich alle Mühe, dem angestaubten Strickjackenklischee etwas entgegenzusetzen: sorgfältig geschminkt, perfekte Strähnchenfrisur, knappes Top und enge schwarze Hose, die sie in ihre Keilsohlenstiefel gestopft hatte. Ihr Namensschild war zu schwer für den dünnen Stoff ihres Oberteils, sodass es den Ausschnitt nach unten zog und die zerklüftete Landschaft um ihr knochiges Brustbein herum freigab. Ich schielte nach ihrem Namen, den ich schließlich als Selina entzifferte. Noch ehe ich meine Erläuterungen, dass ich gern einen Blick in das Verzeichnis des Zeitungsarchivs werfen würde, beendet hatte, sprang sie hinter ihrem Tresen auf.
» Sie werden staunen, wir haben sogar sämtliche zurückliegenden Ausgaben unserer Zeitung auf CD-ROM archiviert. Bis einschließlich 1932. Was genau suchen Sie denn?«
» Ja also, mehr so Heimatkundliches«, sagte ich und überlegte, dass es geschickter gewesen wäre, mir eine glaubwürdige Geschichte zurechtzulegen, bevor ich mich auf Diskussionen darüber einließ. » Ich hatte gedacht, ich fange so ungefähr mit 1992 an.«
» Da sind Sie wohl hierhergezogen oder so?«, erkundigte sich die Bibliothekarin und führte mich zum Computerterminal. Wortlos folgte ich ihr.
» Das System ist absolut fantastisch. Das haben sie extra fürs Millennium auf die Beine gestellt. Vor ein paar Jahren hätten Sie die Daten noch auf Microfiche lesen müssen. Die waren vielleicht ein Albtraum– das Lesegerät war ständig kaputt, und der Lärm erst.« Selina plapperte munter weiter und war dabei selbst nicht gerade leise. Sie tippte das Passwort ein. » Und davor hatten wir die Zeitungen noch in Sammelbänden– riesige, in Leder gebundene Wälzer. Sie glauben ja gar nicht, wie viel Platz die weggenommen haben. So… Sie suchen also nach dem Jahr 1992…«
Mir kam es paradox vor, dass ausgerechnet eine Bibliothekarin Bücher in ihrer eigentlichen Form lästig fand, ich behielt diese Ansicht aber lieber für mich. Selina suchte in einem Aktenschrank gleich neben dem Terminal herum. Blitzschnell blätterte sie den Inhalt einer randvoll mit CDs in Plastikhüllen gefüllten Schublade durch.
» Hier auf dieser CD habe ich die Regionalnachrichten von 1992, und ich kann Ihnen auch die landesweiten Nachrichten geben, wenn Sie wollen.«
» Regional und landesweit wäre perfekt, vielen Dank. Falls ich noch andere Jahrgänge brauche, kann ich mir die auch selbst suchen?«
» Kein Problem. Sie müssen nur daran denken, sich wieder auszutragen.« Sie wies auf eine Liste, die auf dem Aktenschrank bereitlag. » Einfach nur Datum, Zeit, Ihren Namen und die Seriennummer der CD eintragen. Und bitte legen Sie die CDs nicht selbst zurück. Bringen Sie sie einfach zu mir, und ich ordne sie wieder richtig ein. Das System ist gar nicht kompliziert, aber Sie glauben ja gar nicht, wie viele Leute partout nicht damit zurechtkommen. Damit meine ich nicht, dass Sie das nicht schaffen, aber wir haben eben unsere Anweisungen, wissen Sie. Ach ja, gleich hier unter dem Tisch steht ein Drucker. Damit können Sie alles ausdrucken, was Sie brauchen, wobei eine Seite fünf Pence kostet. Die bezahlen Sie dann einfach, wenn Sie fertig sind. Ich finde das wirklich nicht zu teuer. Wir wollen ja damit auch keinen Gewinn machen oder so. Im Internetcafé würde Sie das doppelt so viel kosten, aber ich nehme mal an, die müssen auch irgendwie auf ihr Geld kommen.«
Sie plapperte in ungebremster Lautstärke. Vorsichtig sah ich mich um und hoffte, dass sich niemand davon gestört fühlte. Aber die anderen Bibliotheksbenutzer schienen sie einfach auszublenden. Ich war froh, dass ich mich über meine Absichten eher bedeckt gehalten hatte, sonst hätte sie vielleicht die ganze Bibliothek mit den Einzelheiten unterhalten.
» Rufen Sie mich einfach, falls Sie nicht zurechtkommen«, legte sie mir noch nahe, ehe sie zurück zu ihrem Platz eilte. Nach ihrer eigenen stimmlichen Präsenz zu urteilen, meinte sie das wahrscheinlich sogar wörtlich.
Ich fing an, mich durch Einführungshinweise und Dateiverzeichnisse zu klicken. Der Tag, an dem Charlie verschwand– der zweite Juli– war fest in meinem Herzen eingraviert. Ich öffnete die Dateien für diesen Tag im Jahr 1992, und ein seltsames Gefühl durchfuhr mich, als auf dem Bildschirm die damalige Titelseite des Elmview Examiner erschien. Der Aufmacher
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