Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
dass Geoff zwar eigenartig, aber im Grunde harmlos war. Was, wenn ich mich getäuscht hatte? Wenn er genau wusste, wie er mich provozieren konnte? Wenn er verantwortlich war für meine Verletzungen? Wenn er genau wusste, dass ich keinen Autoschlüssel hatte und jemanden brauchte, der mich mitnimmt?
Ich schluckte und versuchte mich zu beruhigen. Er war ein Kollege, keine Bedrohung, sagte ich mir. Interesse ist etwas anderes als Besessenheit. Freundlichkeit ist nicht gleich Stalking. Selbst wenn er der Angreifer war, hatte er doch nicht ahnen können, dass ich keinen Ersatzschlüssel besaß. Woher hätte er wissen sollen, dass ich keine andere Mitfahrgelegenheit hatte?
Ich musste aufhören, mir über Geoff den Kopf zu zerbrechen, denn es war mir zweifellos nicht gelungen, ihn abzuwimmeln. Irgendwie hatte ich ihm wohl gerade mein Versprechen gegeben, ihn besser kennen zu lernen. Ich hatte zugelassen, dass er mich bis vor meine Haustür brachte. Vielleicht war es ja auch nur wieder meine Paranoia, aber mich beschlich das Gefühl, dass genau das von Anfang an sein Plan gewesen war.
1992
Seit sechs Wochen vermisst
Ich stoße gegen Charlies Zimmertür, und sie geht auf. Mit meinen drei Barbiepuppen, die ich an den Füßen festhalte, stehe ich auf dem Treppenabsatz und lausche. Mum ist unten und sieht fern. Es ist ein kalter, verregneter Tag– viel zu kalt, um draußen zu spielen. Ich habe jetzt schon die zweite Woche schulfrei, aber das finde ich gar nicht so toll. Seit Charlie verschwunden ist, sind die Tage öde und langweilig. Der Schulalltag und der Spaß daran fehlen mir. Auch meine Freundinnen vermisse ich. Regentropfen spritzen ans Fenster, und draußen rauscht ein Auto vorbei. Von einer Sekunde zur anderen taucht es auf und ist ebenso schnell wieder verschwunden. Ich gehe einen Schritt in Charlies Zimmer hinein und dann noch einen. Der Teppich fühlt sich eigenartig an, ganz anders als auf dem Treppenabsatz oder in meinem Zimmer. Er ist dicker und federt unter den Füßen. Das hatte ich ganz vergessen, aber es ist ja auch schon ein paar Wochen her, dass ich das letzte Mal hier drin war. Eigentlich darf ich das gar nicht, aber das ist mir egal. Wenn ich ganz leise bin, merkt Mum überhaupt nichts davon.
Vorsichtig laufe ich in Charlies Zimmer herum und sehe mir seine Sachen an. Sein Geruch ist immer noch da, dieser typische Jungsgeruch nach Dreck und alten Socken. Es tut gut, ihn zu riechen; er fehlt mir. Ich setze mich auf den Boden und lehne mich an sein Bett. Meine Puppen lege ich neben mich.
So sitze und spiele ich eine Weile. Ich spiele Modenschau und lasse meine Lieblingsbarbie auf meinen Beinen auf und ab stolzieren, während die anderen beiden Puppen zuschauen. Darüber habe ich ganz vergessen, wo ich bin, und als ich im Flur ein Geräusch höre, kann ich nur mit Mühe den Blick heben.
» Sag mal, was fällt dir eigentlich ein?«
Mum steht in der Tür, sieht auf mich herab, und ihr Gesichtsausdruck macht mir Angst. Sie sieht ganz bleich aus, und ihr Blick ist starr. Ohne sie aus den Augen zu lassen, lege ich meine Puppen hin.
» Aber ich spiele doch bloß, Mum.«
» Du spielst?« Sie kommt auf mich zu, packt mich an den Haaren und zerrt mich nach oben.
» Mum, du tust mir weh!«, schreie ich auf.
Sie hält mich immer noch an den Haaren und schüttelt mich. » Du hast hier nichts zu suchen, hast du mich verstanden? Nie wieder will ich dich hier drin sehen.«
» Ich weiß, Mum. Entschuldigung, ich mache es nie wieder.« Ich habe angefangen zu weinen, aber das ist ihr egal. Ihr Blick fällt auf meine Puppen, die auf dem Fußboden liegen.
» Heb sie auf.«
Mit tränenverschleierten Augen gehorche ich.
» Gib sie her.«
Sie streckt die Hand aus und wartet. Ich weiß nicht, warum sie meine Puppen haben will. Mir bleibt keine andere Wahl, als sie ihr zu geben. Mit der freien Hand zerrt sie mich am Arm aus Charlies Zimmer und schiebt mich durch meine Zimmertür.
» Du bleibst so lange hier drin, bis ich dir sage, dass du rauskommen kannst«, ordnet sie an, und erst jetzt bemerke ich den süßsäuerlichen Geruch, der mir sagt, dass sie wieder getrunken hat. Sie zieht die Tür hinter sich zu, und ich sitze auf dem Bettrand und heule. Genauer gesagt brülle ich. Ich heule so sehr, dass mir ganz schlecht davon wird. Da höre ich plötzlich draußen vor dem Haus ein Geräusch. Von Husten geschüttelt stehe ich auf und schaue aus dem Fenster.
Mum steht an den Mülltonnen am Straßenrand. Sie hebt den
Weitere Kostenlose Bücher