Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
drehte sich um die zu erneuernde Abwasserleitung an der Hauptstraße und um das dadurch zu erwartende Verkehrschaos. Nichts deutete darauf hin, dass an jenem Tag noch etwas Ungewöhnliches passieren sollte. Damals war die Zeitung nur einmal wöchentlich erschienen. Angstvoll klickte ich auf die Ausgabe der folgenden Woche. Und natürlich stand Charlie in den Schlagzeilen.
Wachsende Sorge um vermissten Jungen
Die Sorgen um die Unversehrtheit des vermissten Schülers Charlie Barnes aus Elmview mehren sich. Der Zwölfjährige wurde vor einer Woche das letzte Mal gesehen. Die Polizei ermittelt intensiv, um seinen Verbleib zu klären. Charlie (unten im Bild) verschwand am Donnerstag, 2. Juli, aus dem elterlichen Anwesen in der Wilmington-Siedlung. Jeder, der Charlie seither gesehen hat oder weiß, wo er sich gegenwärtig aufhält, wird gebeten, sich umgehend beim nächsten Polizeirevier zu melden. Charlies Vater Alan Barnes erklärte gestern: » Wie sind sehr besorgt um unseren Sohn und hoffen sehnlichst, dass er bald nach Hause kommt. Wir wünschen uns nichts mehr, als ihn zu sehen und ihm zu sagen, wie gern wir ihn haben.«
Ich klickte mich durch die regionalen und überregionalen Zeitungsausgaben und verfolgte die Entwicklung der nachfolgenden Tage und Wochen. Von den gescannten Titelblättern sprangen mich die Schlagzeilen an. Sunday Times, 5. Juli 1992: Suche nach vermisstem Jungen geht weiter. Daily Mail, 7. Juli 1992: Wer hat Charlie entführt? Sun, 9. Juli 1992: Gebt uns unseren Sohn zurück!
Ich hielt einen Moment inne und sah mir die Fotos genauer an. Auf einem davon war Mum zu sehen, den Kopf von der Kamera abgewandt, das Gesicht schmal und von Anspannung und Sorge gezeichnet. Sie hatte eine Hand an den Hals gelegt und den anderen Arm um ihren Körper geschlungen. Obwohl man ihr die Verzweiflung deutlich ansah, gefiel sie mir. Daneben waren kleinere Bilder von Charlie und mir abgedruckt, wie wir ein paar Jahre zuvor neben dem Weihnachtsbaum stehen und Geschenke in der Hand halten. Außerdem Charlie auf dem Fahrrad, Charlie in Schuluniform mit breitem Grinsen und aufgeknöpftem Hemdkragen, damit auch jeder sein blödes Halsband bewundern konnte– ein Lederband mit drei Perlen daran. Das trug er immerzu. Manchmal konnte er ein echter Sturkopf sein.
Mein Blick blieb an einzelnen Passagen hängen, die den zermürbenden, vergeblichen Fortgang der Ereignisse schilderten, als es nicht gelang, meinen Bruder oder seinen Entführer ausfindig zu machen.
Augenzeugenberichte über einen Mann mittleren Alters, der sich im fraglichen Zeitraum des Verschwindens von Charlie Barnes in der Wilmington-Siedlung verdächtig verhalten haben soll, wurden von der Polizei in Surrey nicht bestätigt. Trotz umfangreicher Ermittlungen ist die Polizei bei ihrer Suche nach dem vermissten Schüler auf keinerlei Hinweise gestoßen. Detective Chief Inspector Charles Gregg, der die Ermittlungen leitet, sagte: » Wir wissen, dass die Öffentlichkeit bestrebt ist, in jeder erdenklichen Weise zum Auffinden von Charlie beizutragen. Für alle bereits eingegangenen Hinweise sind wir sehr dankbar, doch leider hat keiner davon zu einem Ergebnis geführt. Jeder, der sich an irgendetwas erinnern kann, das uns bei der Suche nach Charlie weiterhelfen könnte, ist dringend aufgefordert, sich umgehend bei uns zu melden.«
Auf der gestrigen Pressekonferenz reagierte Chief Constable Harold Spark verärgert auf die Frage, ob der Polizei bei ihrer Suche nach Charlie Barnes die Ideen ausgegangen seien. Innerhalb der vergangenen fünf Wochen wurde eine Acht-Kilometer-Zone rund um das Wohnhaus des vermissten Schülers sorgfältig durchkämmt, was jedoch leider ergebnislos blieb. Seit seinem Verschwinden vor zehn Tagen gibt es keine ernstzunehmenden Hinweise darauf, dass der Schüler gesehen wurde…
Die Polizei bestreitet Ermittlungen gegen Charlies Vater Alan Barnes im Zusammenhang mit dem Verschwinden seines Sohnes. Anwohner erwähnten jedoch, dass neuerdings der Schwerpunkt der Ermittlungen auf die Familie des Jungen verlagert worden sei. So sei Alan Barnes kürzlich erneut vernommen und gebeten worden, zu seinem Aufenthaltsort zum fraglichem Zeitpunkt Stellung zu nehmen.
Wieder fröstelte ich. Als die Tage so ohne jede Spur von Charlie ins Land gingen, wurde das Mitgefühl allmählich von Verdächtigungen verdrängt. Statistiken zufolge, so hatte Blake gesagt, sind es weit häufiger Familienmitglieder als Fremde, die einem Kind Leid zufügen. Mangels
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