Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
eines konkreten Verdächtigen hatte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder uns zugewandt. Der Ton der Berichte veränderte sich, als die Journalisten über den Zustand der Ehe meiner Eltern zu spekulieren begannen. Sie sprachen nun aus, was noch kurz zuvor nicht druckfähig war.
Laura und Alan Barnes sind, wie sie sagen, Opfer einer Verleumdungskampagne, bei der Misstrauen gegen sie geschürt werde. Fast einen Monat nachdem Charlie zum letzten Mal gesehen wurde, wächst der Verdacht, dass sie möglicherweise etwas über sein Schicksal wissen. Ein Nachbar, der nicht namentlich genannt sein möchte, formulierte es so: » Man wird ja doch stutzig. Keiner weiß, wo dieses Kind hin ist, und sie sind da überall im Fernsehen und in der Zeitung und geben Interviews wie die großen Stars. Man hat ja schon beinahe das Gefühl, dass sie diesen Rummel genießen.« Ein anderer Anwohner berichtete: » Ihre Geschichte ist einfach nicht schlüssig. Das ist so eine belebte Gegend hier. Wenn jemand aufgetaucht wäre, um ein Kind zu entführen, wäre das doch jemandem aufgefallen.« Die Eltern des Jungen weisen verärgert jeglichen Verdacht von sich, die Aufmerksamkeit der Medien zu genießen, und beharren darauf, die Medien nur zu nutzen, um das öffentliche Interesse an Charlies Fall wachzuhalten, damit die Leute ihn erkennen, falls sie ihm begegnen. Wie dem auch sei– vorerst bleiben wohl viele Fragen offen.
Meine Familie war gewissermaßen zum Freiwild und zum Gegenstand der Massenunterhaltung geworden.
Schon beinahe widerwillig startete ich eine neue Suchanfrage nach den Namen meiner Eltern und tauschte die CDs aus, um zu sehen, was 1996 über sie berichtet wurde. Und richtig, vier Jahre nach Charlies Verschwinden erschien ein Randartikel, dessen Überschrift mir sofort ins Auge sprang. Charlies Eltern geschieden. Dabei handelte es sich wiederum um eine Ansammlung versteckter Andeutungen und aufgewärmter Zitate. Der Artikel enthielt den nichtssagenden Kommentar eines Beziehungsberaters zu den möglichen Auswirkungen von Stress auf die Ehe und ein paar trockene Zahlen über Ehescheidungen infolge traumatischer Ereignisse. Das wahre Ausmaß der Tragödie vermittelte er nicht ansatzweise.
Langsam wurde ich müde, vom langen Starren auf den Bildschirm brannten mir die Augen. Ich streckte mich, sah mich um und merkte, dass ich viel länger in meine Recherchen vertieft gewesen war, als ich gedacht hatte. Selina unterhielt sich angeregt am Telefon, und die Bibliothek hatte sich sichtlich geleert. Es ging schon auf die Mittagszeit zu, aber ich verspürte nicht den geringsten Hunger. Ich beschloss eine neue Taktik auszuprobieren und wandte mich noch einmal den frühen Neunzigerjahrgängen zu. Ich schob die erste CD ein, tippte » Wilmington-Siedlung« in das Suchfeld und überflog die Suchergebnisse: regionale Ereignisse, Bagatelldelikte, eine Zunahme von Einbrüchen und Autodiebstählen in dieser Gegend. Dann suchte ich nach Entführungsversuchen und Verurteilungen wegen Pädophilie. Für einen Moment blieb ich an einem Artikel über einen Fall von Kindesvernachlässigung am anderen Ende der Siedlung hängen, aber zwischen einem unterernährten Säugling und dem, was meinem Bruder zugestoßen war, gab es wohl doch keinen Zusammenhang.
Kurz darauf war ich wieder im Jahr 1992 angekommen. Charlies Name tauchte schon in der ersten Trefferliste auf. Auf der zweiten Seite stand: » …Spendensammlung der Anwohner in der Wilmington-Siedlung zugunsten von Laura und Alan Barnes…« Das war ziemlich am Anfang gewesen, als sich die öffentliche Meinung noch nicht gegen uns gewandt hatte. Ich tauschte wieder die CDs aus und durchsuchte die Jahre 1993 und 1994. Immer dieselbe Leier– kleine Gaunereien, grassierende Graffiti-Schmierereien, Vandalismus und versuchte Brandstiftung. Die unablässige Wiederholung ewig gleicher Geschichten. Doch ich arbeitete mich unbeirrt durch die Suchergebnisse, obwohl sich in mir schon langsam Enttäuschung breitmachte. Die Ergebnisse für 1996 waren wieder etwas spannender, denn sie brachten eine Reihe von Berichten über einen Anwohner zutage, der wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war. Allerdings war er erst 1993 zugezogen und hatte sich außerdem eher für kleine Mädchen interessiert.
Das Kinn in die Hand gestützt scrollte ich geistesabwesend durch die Dateien. Monate und Jahre flogen nur so an mir vorüber, als mir plötzlich ein Name ins Auge sprang. » …Derek Keane (41), wohnhaft Curzon
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