Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
antworte ich beinahe tonlos.
» Wohnst du hier?«
Ich nicke.
» Wir sind gerade erst hergezogen. Nur ein paar Häuser weiter, in die Nummer 17.« Er nickt in diese Richtung. » Meine Tochter ist ungefähr in deinem Alter. Sie heißt Emma und ist neun. Wie alt bist du denn?«
» Auch neun«, sage ich.
» Das ist ja prima. Vielleicht kannst du ja bei Gelegenheit mal vorbeikommen und mit ihr spielen. Sie sucht nämlich eine neue Freundin.«
Ich nicke strahlend. Eine neue Freundin. Schon stelle ich mir ein Mädchen vor, das ebenso dunkelhaarig ist, wie ich blond bin, das sich nicht vor Spinnen ekelt, keine Höhenangst hat, das Tiergeschichten und Ballett mag und sich gern mit Mamas aussortierten Sachen verkleidet, um Szenen aus Büchern nachzuspielen.
Da wird hinter mir die Tür so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand im Flur kracht.
» Verschwinden Sie!« Das Gesicht meiner Mutter ist so verzerrt, dass man sie kaum noch erkennen kann. » Lassen Sie meine Tochter in Ruhe!«
Starr vor Schreck weicht der Mann zurück und zieht den Hund zu sich heran. » Es tut mit leid… Ich… Es ist meine Schuld. Es ist nur… Wir sind gerade erst eingezogen, hier in der Straße und…«
» Er hat eine Tochter«, sage ich zu Mum, damit sie sich beruhigt und aufhört, ihn so böse anzustarren.
» Erlauben Sie ihr etwa, mit Fremden zu sprechen? Scheren Sie sich gar nicht um ihre Sicherheit?« Ihre Stimme ist viel zu laut.
Der Mann entschuldigt sich hastig und geht davon, ohne sich zu verabschieden. Ich hoffe, dass er noch einmal mit seiner Tochter wiederkommt, damit wir trotzdem Freunde werden können, wenn ich ihnen die Sache mit meiner Mutter, Charlie und unseren Regeln erklärt habe.
Mum wartet, bis der Mann außer Sichtweite ist und packt mich dann fest am Arm. » Geh rein, und verschwinde in dein Zimmer! Ich habe dir doch gesagt, dass du mit niemandem sprechen sollst.«
» Aber…«, fange ich an und will mich verteidigen.
» Rein mit dir!« Sie zerrt mich ins Haus und stößt mich in Richtung Treppe, sodass ich das Gleichgewicht verliere, hinfalle und mit dem Kopf heftig ans Geländer stoße. Ich fange an zu weinen und jammere nach meinem Vater, meiner Mutter, nach Trost.
Mum steht mit dem Rücken zur Eingangstür, lehnt sich dagegen und schlägt die Hände vors Gesicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen, und ich sehe, wie ihr Rock vibriert, weil sie zittert. Links von mir bewegt sich etwas. In der Wohnzimmertür steht mein Vater, die Augen jedoch nicht auf mich, sondern auf Mum gerichtet. Ich höre auf zu schreien, wimmere jedoch weiter leise vor mich hin, um Dad daran zu erinnern, dass ich mir wehgetan habe und noch am Boden liege.
» Laura«, sagt er mit einer Stimme, die ganz fremd klingt, » das kann so nicht weitergehen. Du tust anderen weh. Und du tust Sarah weh. Du musst damit aufhören.«
Mum rutscht an der Tür hinunter und hockt nun zusammengekauert mit bebenden Schultern da. Sie flüstert so leise, dass ich es kaum hören kann: » Ich kann das nicht…«
Dad hebt die Hände und greift sich an den Kopf. » Das kann so nicht weitergehen«, sagt er noch einmal. » Ich kann nicht so leben.« Dann dreht er sich um, knallt die Wohnzimmertür hinter sich zu und lässt uns beide allein.
Ich rapple mich auf und gehe nach oben, während Mum im Treppenhaus zurückbleibt. Ich gehe ins Schlafzimmer meiner Eltern und sehe im Spiegel, dass ich ganz rot und aufgelöst aussehe. Meine Augen sind tränennass, und über meinem rechten Auge bildet sich eine Beule. Auf meinem Arm sind fünf rote Abdrücke zu sehen. Daneben prangen fünf dunkelrote Halbmonde, wo sich die Fingernägel meiner Mutter in meine Haut gegraben hatten. Die Gewissheit, dass sie mich nicht liebt und dass ich sie schon wieder enttäuscht habe, formt sich zu einem schmerzhaften Kloß in meinem Hals. Ich schlucke ihn hinunter, sodass er mir nun als schwerer Klumpen im Magen liegt. Ich weiß nicht genau, was zwischen meinen Eltern passiert ist, aber ich bin mir sicher, dass ich daran schuld bin. Ich habe nicht auf Mum gehört und ihr Scherereien gemacht. Von nun an will ich immer brav sein, so brav es nur geht. Ich werde nie wieder etwas falsch machen und sie nie mehr im Stich lassen.
11
Obwohl Krankenhäuser rund um die Uhr geöffnet sind, rief ich erst nach acht in der St.-Martins-Klinik an, wohin man Geoff nach Aussagen der Polizei gebracht hatte. Es war das größte Krankenhaus der Gegend – in viktorianischer Zeit gegründet und dann in den
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