Die Verraeterin
Gabe besäße und er mich mit diesem Ding verletzt hätte, wäre er nackt und würde in einer Lache seines eigenen Bluts liegen.« Jenna seufzte und schmiegte sich an Leander, um dann erneut ihre Lippen auf die seinen zu pressen. »Sollen wir uns ins Schlafzimmer zurückziehen, Liebster?«, murmelte sie und zupfte am Knoten seiner Seidenkrawatte. »Ich habe das dringende Bedürfnis … die Kleider zu wechseln.«
3
Der Auftragsmörder stand an demselben hohen Tudorfenster der Ostbibliothek, aus dem Jenna am Tag zuvor hinausgeblickt hatte, und beobachtete die schwarzen Gewitterwolken, die sich am Himmel bedrohlich und finster zusammenzogen. Regen fiel in silbernen, dichten Schleiern herab und verhüllte den Blick auf die Wiesen und den vernebelten Wald im Hintergrund. Die Landschaft schien nur noch aus gedämpften Grau-, Braun- und Grüntönen zu bestehen. Ein greller Blitz durchbrach die Wolken und tauchte die Hügel und Bäume sekundenlang in weißes Licht, ehe sie wieder in Nebel und Schatten sanken. Das Gras wurde von einem leisen Donnern aus der Ferne in Bewegung versetzt.
Der Sturm hatte in dem Moment begonnen, als der Auftragskiller aus dem Privatflugzeug des Earl of Sommerley am selben Morgen in Heathrow ausgestiegen war. Das Wetter hatte sich seitdem nicht verbessert. Es erinnerte ihn an die Monsunzeit, die seine eigene Kolonie in Brasilien jeden Sommer heimsuchte, doch diese Sturmböe, so heftig und allumfassend sie auch sein mochte, wirkte irgendwie weniger urtümlich. Vorhersehbarer. Zurückhaltender.
Alles in dieser gepflegten, grünen, englischen Kolonie schien so zurückhaltend zu sein. Die Architektur, die Leute, das Land. Sogar das Wetter. Nur ihr Gesetz war dasselbe wie das seine. Beweis dafür war der mittelalterlich wirkende Apparat, den er in der Mitte des großen Saals gesehen hatte. Er hatte eine geradezu animalische Gier ausgestrahlt, als ob er lebendig wäre – genauso wie die Folterwerkzeuge, die auch sein Stamm für solche Anlässe bereithielt.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Wenn du weißt, wo sie sind, warum schickst du dann nicht eine Garnison? Warum schickst du keine Armee, um sie auszulöschen?«
»Wir wissen nicht genau, wo sie sind. Und bis wir es wissen, können wir sie auch nicht direkt angreifen. Wir können es nicht riskieren, dass man uns entdeckt oder dass man unsere Leute tötet. Die meisten unserer Soldaten sind außerdem damit beschäftigt, den Stamm auf den Umzug nach Manaus vorzubereiten. Und da sie über alle Kolonien außer dieser Bescheid wissen, ist es erst einmal unsere Priorität, unsere Leute woanders hinzubringen. Sobald das über die Bühne ist, können wir uns auf eine Strategie einigen, doch in der Zwischenzeit sollten wir nicht einfach blind zuschlagen. Wir brauchen mehr Informationen.«
Leanders Tonfall klang angespannt genug, um seine Irritation zu verraten. Xander kannte den Earl seit Jahrzehnten und wusste, wie sehr er Fragen und Erklärungen hasste. Das bedeutete, dass Leander nicht nur Informationen brauchte, sondern auch ihn.
»Mehr Informationen also.« Xander wandte sich vom Fenster ab und sah Leander mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
Zuerst töten und später Fragen stellen – das war sein Motto, und es hatte ihm bisher immer die richtigen Ergebnisse gebracht. Aber dieser Mann, der so lässig in dem reich verzierten Sessel in seiner reich verzierten Bibliothek saß, die sich in seinem noch reicher verzierten Herrenhaus befand, folgte nicht den einfachen Überzeugungen eines Auftragskillers. Er war der Alpha, was bedeutete, dass er sorgfältig abwägen, hinterfragen und planen musste.
Politik. Er hasste sie. Zum Glück war die Rolle des Alpha von Manaus an seinen Halbbruder übergeben worden.
»Ja«, sagte Leander und sah ihn jetzt mit klarer Verärgerung in seinen aufmerksamen grünen Augen an. Ruhelos rutschte er auf dem Sessel hin und her, und etwas in seiner Miene zeigte, dass er seine eigenen unausgesprochenen Probleme mit diesem Plan hatte. »Ich will wissen, wo sie sich genau aufhalten und wie viele von ihnen es sind. Wie sie leben. Und was genau sie über uns wissen.«
Xander musterte ihn aufmerksam und fragte sich, was Leander zurückhielt. »Wenn du solche Informationen willst, dann brauchst du keinen Killer, sondern einen Spion, einen Maulwurf.«
»Wir brauchen beides.«
Offenbar war Leander zu unruhig, um länger sitzen zu bleiben. Er sprang auf und trat zu einer eleganten
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