Die Verraeterin
Leander fort, wobei er noch immer aus dem Fenster sah, »genau zwei Wochen in Rom bleiben. Keinen Tag länger. Wenn es der Person, die Sie begleitet, in dieser Zeit nicht gelingt, herauszufinden, wo das Hauptquartier der Expurgari ist und auch keine sonstigen Informationen an uns weitergegeben werden, tun Sie das, worin Sie am besten sind.« Er wandte den Kopf und musterte Xander mit einem kalten, aufmerksamen Blick. »Dann werden Sie sie töten.«
»Sie?«, wiederholte Xander schockiert, ohne jedoch seine stoische Miene zu verändern.
Ehe er noch etwas hinzufügen konnte, wurde an die Tür der Bibliothek geklopft. Leander rief »Herein!«, und die Tür ging auf. Diesmal war Xander so schockiert, dass es ihm die Sprache verschlug.
4
»Mehr kann ich nicht tun«, sagte Jenna. Ihre Stimme klang angespannt, als sie Morgans Finger losließ. Sie ließ sich in dem Seidensessel mit seinem roten und rosafarbenen Muster aus Pfingstrosen zurücksinken und bedeckte mit einer blassen, zitternden Hand ihre Augen.
Morgan lehnte sich auf ihrem Metallstuhl zurück, der Jenna gegenüberstand, und versuchte, weder zu zittern noch sich zu übergeben. Sie kämpfte noch immer gegen dieses Taumeln, dieses desorientierende Gefühl von Schwerelosigkeit und die lebhaften Bilder an, die vom ersten Moment an, als Jenna ihre Hand ergriffen hatte, vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt waren.
Die Gabe des Sehens der Königin war außergewöhnlich – genauso eindrucksvoll und elegant wie Jenna selbst. Allein durch Berührung konnte sie die Gedanken eines anderen lesen, zukünftige Pläne und Erinnerungen erkennen – und sie konnte auch Informationen und die Wahrheit hinter den Lügen ausfindig machen. Sie war zudem in der Lage, ihrem Gegenüber diese Informationen wiederum durch Berührung wie einen schnell abgespulten Stummfilm zukommen zu lassen, wie sie das gerade getan hatte. Doch Morgan war es bisher nicht klar gewesen, wie erschreckend und entsetzlich es sein konnte, ins Bewusstsein oder in die Erinnerungen eines anderen einzutauchen, oder dass einem so übel dabei werden konnte.
Sie hatte alles gesehen. Alles, was man Jenna angetan hatte und welches Leid ihr durch die Expurgari zugefügt worden war. Das hatte Morgan fast dazu gebracht, sich zu übergeben.
Ein Wachmann trat zu ihnen, schwarz gekleidet und muskulös. Er war einer von etwa einem Dutzend, das aufmerksam wie Raubvögel in der Nähe der beiden Frauen im Wintergarten stand und sie beobachtete. Der Wintergarten war ein hoher Raum mit einer Glasdecke und riesigen Palmen in Töpfen sowie bemalten Wänden und Seidensofas. An allen vier Seiten befanden sich geschwungene Fenster, durch die man vor Regen kaum hinaussehen konnte. Zudem gab es hier eine außergewöhnliche Vielfalt von exotischen Vögeln in goldenen Käfigen, die von der Decke herabhingen. Die Tiere schlugen hilflos mit ihren gestutzten Flügeln gegen die Metallstäbe. Morgan empfand den Anblick als zutreffende Allegorie für ihr eigenes Leben. Das Zwitschern und Pfeifen der Vögel verband sich mit dem Herabprasseln des Regens auf das Glasdach über ihnen zu einer unheimlichen Symphonie.
»Majestät«, sagte der Wachmann leise und warf einen finsteren Blick in Morgans Richtung. Er kam noch einen Schritt näher, ehe er, immer noch in einer respektvollen Entfernung, stehen blieb.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, mir geht es gut«, erwiderte Jenna und winkte ihn ungeduldig fort. »Es ist alles in Ordnung. Es hat nichts mit ihr zu tun«, fügte sie hinzu, wohl wissend, dass der Wächter vermutete, Morgan hätte durch ihre ruchlose Gabe der Einflüsterung mit ihr etwas Ähnliches wie am Tag zuvor mit dem Viscount gemacht. Die Königin massierte sich mit zwei Fingern den Nasenrücken und murmelte: »Die können einen aber auch niemals zufriedenlassen. Das treibt mich noch in den Wahnsinn.«
»Verstehe«, erwiderte Morgan leise. »Mich auch.«
Der Wächter kehrte schweigend zu den anderen Männern zurück, und Jenna öffnete die Augen. Sie musterte Morgan mit einem derart klaren und mitfühlenden Blick, dass diese am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Sie wusste, dass sie eine solche Freundlichkeit nicht verdient hatte. Doch es war ihr physisch unmöglich, im Boden zu versinken, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen, um diesen Blick nicht mehr sehen zu müssen.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Ihre Wangen wurden heiß, und hinter den geschlossenen Augen brannten Tränen.
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