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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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die mit schweren Schlössern versehen waren.
    Sein Herz schlug schneller. Die Verbrecher, Geächteten und Deserteure des Clans waren stets hier eingesperrt gewesen, tief in den Katakomben des Herrenhauses, weit unten im Keller, wo niemand ihre Schreie hören konnte. Zitternd stellte sich Nathaniel vor, wie das leiser werdende Echo dieser Schreie von den Wänden widerhallte.
    Er ging zur dritten Tür auf der rechten Seite und blieb davor stehen. Angestrengt lauschte er, ob etwas in dem Raum dahinter zu hören war. Doch dort herrschte völlige Stille. Er warf einen Blick auf die Treppe und nahm dann den Griff der Taschenlampe in den Mund, um ihn mit seinen Zähnen festzuhalten, während er nach dem Bund verrosteter alter Schlüssel griff, der an seinem Gürtel hing. Es dauerte eine Weile, bis er den richtigen gefunden hatte. Langsam schob er ihn ins Schloss und sperrte auf. Er zuckte zusammen, als er das Knirschen des Metalls vernahm.
    Einen Moment lang überlegte er, ob es klug gewesen war, allein hier herunterzukommen. Er wusste, dass es sich um eine Prüfung handelte, und er wollte den anderen beweisen, dass er es wert war, zum Ratsmitglied ernannt worden zu sein. Doch dieser Ort jagte ihm immer wieder kalte Schauder über den Rücken, und er hatte keine Ahnung, was auf der anderen Seite der Tür auf ihn wartete. Vielleicht war sie bereits tot?
    Oder schlimmer: wütend.
    Er stieß die Tür auf, und sie schwang mit einem langen, unheimlichen Ächzen ihrer rostigen Angeln zur Seite. Nathaniel spannte die Muskeln an. Er wartete auf eine Bewegung oder ein Geräusch, doch da war nichts. Hastig nahm er die Taschenlampe wieder in die Hand und hielt den elektrischen Viehtreiber wie ein Kruzifix, mit dem man böse Geister vertreibt, vor sich, ehe er vorsichtig die Zelle betrat.
    Eine tote Ratte lag mit aufgerissenem Bauch neben einem Haufen stinkenden Strohs vor einer Steinmauer. Das Tier hatte das Maul auf, sein Fell war starr vor getrocknetem Blut. Neben der Tür stand ein Eimer mit abgestandenem Wasser und ein Teller mit Essen, das nicht angerührt worden war. Auf dem Heuhaufen lag eine schmutzige Wolldecke. Es herrschte völlige Stille, und Nathaniel konnte seinen Atem als weiße Wolke vor sich sehen. War das die richtige Zelle?
    Er stieß mit dem Viehtreiber gegen die Tür, sodass diese noch weiter aufschwang. Dann vernahm er ein so grauenerregendes Geräusch, dass sich ihm die Haare aufstellten.
    Es war ein leises, durchdringendes Knurren aus der hinteren Ecke der Zelle. Dort war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte. Das Knurren klang aggressiv und warnend – ein Geräusch, das er überall wiedererkannt hätte. Auf einmal sah er zwei grüne, mandelförmige Augen, die ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrten.
    Es waren wunderschöne Raubtieraugen – gefährlich und gnadenlos.
    Er hatte also doch die richtige Zelle erwischt.
    »Morgan«, flüsterte Nathaniel und zwang sich dazu, nicht von der Stelle zu weichen, auch wenn er sich am liebsten umgedreht hätte und geflohen wäre. Er räusperte sich und richtete sich etwas auf. »Morgan«, wiederholte er, diesmal ein wenig entschlossener, auch wenn noch das Zögern in seiner Stimme zu hören war. »Es ist so weit.«
    Das Knurren wurde tiefer und klang wie der Warnlaut eines Raubtiers der Urzeit. Die Augen blinzelten kein einziges Mal.
    Nathaniel spürte, wie das Raubtier in ihm aufhorchte, die Krallen ausfuhr und das Fell sträubte. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Das wäre keine Lösung, und wahrscheinlich müsste er eine solche Auseinandersetzung mit dem Tod bezahlen. Sie war die Stärkere, die Erfahrenere und die wesentlich Gefährlichere.
    Er klammerte sich regelrecht an den elektrischen Viehtreiber, während er mit dem Daumen einen kleinen Schalter umlegte. Den Strahl der Taschenlampe richtete er auf den Boden. Das Licht tauchte die Wände und die Decke in goldbraune Schatten.
    »Es tut mir leid«, fügte er hinzu, wobei er versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen, was ihm sehr schwerfiel. »Du weißt, dass es nicht meine Entscheidung war. Du weißt doch auch, dass unser Gesetz nichts anderes zulässt.«
    In das tiefe Knurren und Fauchen mischte sich ein hellerer Ton, der so klang, als ob sie ihm zustimmte. Er vermochte ein wenig leichter zu atmen und fühlte sich nicht mehr ganz so verängstigt. Vorsichtig wich er über den unebenen Boden zurück, wobei er die Tür offen ließ und sich bemühte, keine plötzlichen Bewegungen zu machen, sondern

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