Die verratene Nacht
sie es aufgegeben, hatte begriffen, dass ihr Leben hier, wo sie den Sterbenden diente, wichtiger war, als das da draußen, wo sie fast umgebracht worden wäre. Vielleicht hatte Sams Tod ihr die Augen für die Gefahren geöffnet. Und für die wahre Natur der mordlustigen Zombies.
Oder vielleicht war sie einfach noch nicht so weit, dass sie ihnen wieder begegnen könnte.
Selena schaute ihn an. „Was ist?“
Ihm blieb einen Moment lang die Luft weg, als er die gelassene Heiterkeit in ihrem schönen Gesicht sah, die Art, wie die untergehende Sonne einen noch tieferen goldenen Schimmer über ihre Haut und ihre Haare warf. Trotz der Ringe unter ihren Augen und der tieferen Gräben, die sich von ihrem Mund und ihren Augen aus ausbreiteten, war sie wunderschön. Er wollte sie küssen; er würde ihre Gesellschaft vermissen, ihre Wärme, ihren verschrobenen Sinn für Humor, der in den merkwürdigsten Augenblicken zu Tage trat ... aber er sagte nichts.
Er hatte vorgehabt mit ihr über Lou zu reden und über die Tatsache, dass sie Zwillinge waren, aber letzten Endes schien das hier dann doch nicht der richtige Moment dafür zu sein. Vielleicht war es die Trauer, die sie immer noch umgab – es war auch erst zwei Wochen her. Vielleicht war er noch nicht bereit das Risiko einzugehen, dass auch sie ihn für etwas Unnatürliches halten könnte. Vielleicht machte er sich Sorgen, dass sie Lou für das, was Sam passiert war, die Verantwortung gab, und dass sie nie akzeptieren würde, dass sie Zwillinge waren.
„Ich habe es vermisst, Zeit mit dir zu verbringen“, sagte er und ergriff ihre Hand. Vielleicht sollte er ihr sagen, wie er sich fühlte.
Sie lächelte und dieses Lächeln schien ein wenig verloren. Sie drückte seine Finger kurz. „Ich habe gerade eine Menge Dinge, die ich für mich selbst klären muss.“
Er schaute auf sie herunter, streckte die Hand aus, um ihr das schwere, dunkle Haar von der Schulter zu streifen. „Das verstehe ich. Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich vermisst habe. Und ich vermisse das hier.“ Er konnte nicht anders. Er beugte sich vor, seine Hand streichelte ihr sanft unten am Kiefer entlang und presste seine Lippen genau auf die ihren.
Seine Augen schlossen sich vor Lust bei dem vertrauten, tröstlichen Gefühl und dem altbekannten Begehren, das nur allein dieses leichte Streicheln von Mund auf Mund mit sich brachte. Er verlagerte das Gewicht, spürte, wie ihr Mund sich unter seinem bewegte, ihre Lippen sich leicht öffneten und er seine Zunge an jener kleinen Öffnung entlanggleiten ließ. Weich, warm, feucht ... Begehren und Verlangen begannen in ihm langsam hochzusteigen.
Und dann drehte sie sich weg, ihre Hand bewegte sich und legte sich auf seine Brust. „Ich ... ah, Theo, ich glaube nicht, dass ich das hier tun kann. Im Moment.“
Ein schwarzes Loch tat sich plötzlich gähnend ganz zuoberst in seinen Gedanken auf – leer und geheimnisvoll. Das Herz hämmerte ihm, der Verdacht, den er unterdrückt hatte, erblühte jetzt voll und ganz zu etwas sehr Unangenehmen, und Theo versuchte ihren nach unten gerichteten Blick zu erhaschen. „Zu bald?“
„Ja.“ Sie holte einmal tief Luft und schaute ihn an. „Ich habe eine Menge Dinge, die ich für mich klären muss. Ich bin durcheinander und wütend – so wütend – und ... oh, Gott, ich will, dass es ok ist, aber jedes Mal, wenn ich daran denke, ist alles, was ich sehen kann, dich ... du, in jener Nacht. Wie du geradezu in sie hinein geflogen bist, diese Zombies zerlegt hast, wie eine Art rasender Krieger. Ich kann die Bilder nicht loswerden, das Gemetzel, die Brutalität. Ich träume davon. Ich habe deswegen Alpträume.“
Betäubt trat Theo einen Schritt zurück. Was nur ein kleines Nagen von Sorge gewesen war, war nun zum schrillen, durchdringenden Gebrüll von Gefahr geworden. Seine Hände fühlten sich auf einmal eiskalt an. „Selena. Ich hatte nicht vor tatenlos zuzuschauen, wie sie dich – ich dachte zuerst, dass du das da mitten drin warst – in Stücke reißen. Oder irgendjemand anderen. Es war überhaupt keine Frage, dass ich sie davon abhalten würde. Wenn ich nochmal die Gelegenheit hätte, würde ich es wieder tun. Ich muss dir sagen, dass ich deine Versuche, sie ruhiger sterben zu lassen, respektiere, aber ich werde nicht zulassen, dass sie irgendjemanden töten, wenn ich was dagegen unternehmen kann. Ganz besonders nicht in deinem Fall.“
Eine Träne floss über, aus einem Auge und hinterließ einen
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