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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gibt.«
    »Sprich aber mit niemandem sonst darüber«, forderte er sie mit Nachdruck auf und warf einen Blick zu Tellman hinüber. Dann aber ging ihm auf, wie sinnlos es war, zu erwarten, dass er sie daran hindern konnte. An seinem Gesichtsausdruck, einer Mischung aus Gekränktheit und Wut, ließ sich ablesen, wie sehr er unter seiner Hilflosigkeit und darunter litt, dass er in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.
    »Bestimmt nicht«, versprach sie spontan, allein schon, damit er sich nicht weiter um sie zu sorgen brauchte, denn sie sah durchaus, wie sehr er darunter litt. »Ich werde mit niemandem sonst darüber sprechen, sondern lediglich zu ihr gehen und ihr beim Suchen helfen.«
    Er atmete langsam aus.
    »Jetzt muss ich gehen.« Sie blieb reglos stehen, sehnte sich danach, ihn zu berühren, doch immer noch war die Straße voller Menschen. Schon jetzt sah man zu ihnen hinüber. Aller Vorsicht zum Trotz tat sie einen Schritt auf ihn zu.
    Pitt hob abwehrend die Hand.
    Ein Arbeiter, der auf seinem Fahrrad vorüberkam, pfiff gellend
und rief Tellman etwas Unverständliches zu, das mit Sicherheit anzüglich gemeint war. Lachend radelte er weiter.
    Tellman fasste Charlotte am Arm und zog sie zurück. Seine Finger schmerzten sie.
    Pitt stieß einen Seufzer aus. »Bitte sei vorsichtig«, wiederholte er. »Und sag Daniel und Jemima, dass ich sie lieb habe.«
    Sie nickte. »Das wissen sie.«
    Nach kurzem Zögern wandte er sich um, ging wieder auf die andere Straßenseite und entfernte sich von ihnen, ohne sich umzusehen.
    Charlotte sah ihm nach und hörte wieder Lachen von einigen jungen Leuten an der Ecke.
    »Kommen Sie«, sagte Tellman mit Ärger in der Stimme. Diesmal nahm er ihr Handgelenk und zog so heftig daran, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Aufgebracht wollte sie etwas sagen, doch dann begriff sie, wie auffällig sie sich verhielt. Wenn sie sich nicht genauso benahm, wie man es dort von einer Frau erwartete, würde sie alles nur noch schlimmer machen.
    »Tut mir Leid«, sagte sie und folgte ihm gehorsam in Richtung Whitechapel High Street. Sie schritt leichter aus als auf dem Herweg, und in ihr breitete sich eine wohlige Wärme aus. Zwar hatten sie einander nicht berührt, aber der Blick in Pitts Augen war eine Liebkosung gewesen, eine Berührung, deren Eindruck nie verblassen würde.
     
    Lady Vespasia hatte nicht besonders viel für Richard Wagner übrig, aber ein Opernbesuch war immer ein glanzvoller gesellschaftlicher Anlass, ganz gleich, was gespielt wurde. Da die Einladung von Mario Corena kam, hätte sie auch dann angenommen, wenn es nur um einen Spaziergang im Regen durch die Hauptgeschäftsstraße gegangen wäre. Zwar würde sie ihm das unter keinen Umständen sagen, doch vermutete sie, dass er es ohnehin wusste. Nicht einmal die entsetzliche Nachricht, die Charlotte gebracht hatte, konnte sie daran hindern, mit ihm in die Oper zu gehen.
    Er holte sie um sieben Uhr ab, und sie fuhren gemütlich in der Kutsche, die er für den Abend gemietet hatte. Die Luft war lind,
die Straßen waren voller Menschen, die auf ihrem Weg zu Gesellschaften, Abendeinladungen, Bällen, Ausstellungen und Ausflügen auf der Themse sehen und gesehen werden wollten.
    Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster der Kutsche auf Marios lächelndes Gesicht. Die Zeit war gnädig mit ihm gewesen. Seine Haut war nach wie vor glatt, und trotz allem, was er im Laufe seines Lebens verloren hatte, wiesen die Linien in seinem Gesicht nach oben, verrieten keine Bitterkeit. Vielleicht hatte er nie aufgehört zu hoffen, sondern der Hoffnung eine neue Richtung gegeben, wenn ein Kampf verloren ging und er sich einer anderen Aufgabe zuwandte.
    Sie musste an die langen goldenen Abende in Rom denken, an denen die Sonne hinter den antiken Ruinen jener Stadt untergegangen war, auf deren Herrschaft Jahrhunderte minder bedeutender Träume gefolgt waren. Dort war die Luft wärmer gewesen, keine Kälte hatte darin gelegen, wohl aber der Geruch von Hitze und Staub. Vespasia erinnerte sich, wie sie miteinander dort spazieren gegangen waren, wo einst der Mittelpunkt der Welt gelegen hatte, Angehörige aller Völker der Erde vorübergezogen waren, um der Macht Tribut zu zollen.
    Das war das Zeitalter der Kaiser gewesen. Mario hatte auf einer der alten, schlichten Brücken über den Tiber gestanden, dem Spiel des Lichts auf dem Wasser zugesehen und ihr voller Leidenschaft von der früheren Republik berichtet, die lange vor den

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