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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wen denkst du dabei?«, fragte sie, im Bewusstsein dessen, dass aus ihm nicht nur die Erinnerung sprach, so lieb sie ihm sein mochte.
    Mit ernst blickenden Augen wandte er sich ihr zu. Sie waren fast am Ziel angelangt. Gleich würden sie aussteigen und auf den Stufen zum Opernhaus in der Menge der anderen untertauchen, Herren in leuchtend weißen Hemden, in Spitze und Seide gekleidete Damen, deren Juwelen im Lichtschimmer glänzten.
    »Nicht an bestimmte Menschen, meine Liebe, wohl aber an
eine bestimmte Epoche.« Er sah sich um. »Das hier kann nicht von Dauer sein, dieser übertriebene Luxus, die Verschwendung und die gesellschaftliche Ungleichheit. Sieh dir die Schönheit gut an, und präge sie dir ein, denn sie hat einen hohen Wert, doch wird ein großer Teil von ihr dahingehen.« Seine Stimme war leise. »Wären diese Menschen ein wenig klüger gewesen und nicht ganz so unmäßig, sie könnten alles behalten. Das ist das Schlimme, wenn sich die Wut schließlich Bahn bricht: Sie zerstört das Gute zusammen mit dem Schlechten.«
    Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, hielt die Kutsche an. Er stieg aus und hielt ihr, bevor ein Lakai herbeispringen konnte, hilfreich die Hand hin. Während sie durch die Menge der anderen ins Innere des Gebäudes schritten, nickte Vespasia diesem und jenem Bekannten zu.
    Sie sahen Charles Voisey, der mit James Sissons tief ins Gespräch versunken dastand. Sissons wirkte nervös und redete beständig auf Voisey ein.
    »Der arme Voisey«, sagte Vespasia. »Glaubst du, dass wir moralisch verpflichtet sind, ihn zu erlösen?«
    Mario fragte verwirrt: »Ihn erlösen?«
    »Von dem Zuckerfabrikanten«, sagte sie, überrascht, dass sie es ihm erklären musste. »Er ist ein unerträglicher Langweiler.«
    Eine Mischung von Mitgefühl und Qual legte sich auf Marios Züge, und sie musste sehnsuchtsvoll an Dinge denken, die außer im Traum nie sein konnten, es nicht einmal vor all den Jahren in Rom hatten sein können.
    »Du weißt nichts von ihm, meine Liebe, nichts von dem Mann, der hinter dem plumpen Äußeren steckt. Er hat es verdient, nach seinem Herzen und nicht nach seinem gesellschaftlichen Schliff oder Mangel daran beurteilt zu werden.« Er nahm ihren Arm und steuerte sie überraschend kräftig an Voisey und Sissons vorüber nach oben zu ihrer Loge.
    Bald darauf nahm Voisey nahezu unmittelbar ihnen gegenüber Platz; Sissons aber sah sie nicht mehr.
    Sie wollte die Musik genießen, wollte während dieser kurzen Zeit in Herz und Sinn vollständig eins mit Mario sein, doch ließ sie nicht los, was ihr Charlotte berichtet hatte. Sie ging in
Gedanken jede Möglichkeit durch, und je länger sie das tat, desto weniger zweifelte sie daran, dass das, worauf man Lyndon Remus angesetzt hatte, der Wahrheit entsetzlich nahe kam. Zugleich aber war sie überzeugt, dass man ihn für Zwecke missbrauchte, die er nicht im Entferntesten durchschaute.
    Sie traute Marios Herzen und war überzeugt, dass er sich in all den vielen Jahren nicht grundlegend geändert hatte, denn seine Träume waren in seine Seele verwoben. Seinem Kopf aber traute sie nicht. Er war ein Idealist, der dazu neigte, die Welt so zu sehen, wie er sie gern gehabt hätte. Er hatte nicht zugelassen, dass die Erfahrung seine Hoffnung zuschanden werden ließ, und er hatte nicht lernen wollen, sich an der Wirklichkeit zu orientieren.
    Sie sah in sein Gesicht, auf dem wie einst Leidenschaft und Hoffnung lagen, und folgte seinem Blick zur königlichen Loge, die an diesem Abend leer war. Wahrscheinlich gab sich der Kronprinz Genüssen hin, die eine Spur weniger ernsthaft waren als das Ringen der dem Untergang geweihten Götter in Walhall.
    »Hast du mich mit Absicht in die Götterdämmerung eingeladen?«, fragte sie.
    Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Vielleicht war es ein Hauch des Bewusstseins, dass die Zeit unerbittlich ablief. Ohne den Anflug eines Lächelns in den Augen sagte er: »Nein … aber denkbar wäre es. Die Dämmerung äußerst fehlbarer Götter ist angebrochen, denn sie haben die ihnen gebotenen Möglichkeiten nicht genutzt, zu viel Geld verschwendet, das ihnen nicht gehörte, sich Gelder geborgt, die nicht zurückgezahlt worden sind. Anständige Menschen werden deswegen verhungern, und das erregt nicht nur die Wut der Opfer, sondern auch die der anderen Menschen. So etwas bringt Könige zu Fall.«
    »Das bezweifle ich.« Sie widersprach ihm nicht gern. »Der Kronprinz ist schon so lange bis über beide Ohren

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