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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die damit verbundenen Unannehmlichkeiten, vor allem aber wies er darauf hin, dass es Pitt bestimmt nicht recht sei, wenn sie dort auftauche. Sie forderte ihn auf, seine Zeit nicht mit Einwänden zu vertun, die nichts bewirken würden, denn sie sei fest entschlossen hinzugehen, ob mit ihm oder ohne ihn. Da ihnen das beiden klar sei, halte sie es für besser, wenn er es einfach hinnähme, damit sie über die Einzelheiten reden und rechtzeitig schlafen gehen konnten.
    »Ja, Ma’am«, gab er nach. Sie sah seinem Gesicht an, dass er sich über die Schwere der Situation im Klaren war und er keineswegs nur Einwände erhoben hatte, um sein Gewissen zu beschwichtigen. Er begleitete sie zur Haltestelle des Pferde-Omnibusses.
    »Ich hole Sie morgen früh um sechs in der Keppel Street ab«, sagte er. »Wir nehmen eine Droschke zum Untergrundbahnhof und fahren dann bis Whitechapel. Tragen Sie Ihre älteste Kleidung und feste, bequeme Schuhe. Vielleicht könnten Sie sich ein Umschlagtuch besorgen, damit man Ihre Haare nicht sieht, dann fallen Sie unter den Frauen dort weniger auf.«
    Charlotte verabschiedete sich von ihm mit einer Mischung aus finsteren Vorahnungen und Vorfreude beim Gedanken, Pitt wiederzusehen.
    Zu Hause eilte sie die Treppe empor, wusch sich die Haare, obwohl sie sie unter dem Tuch verbergen wollte, und bürstete sie, bis sie glänzten. Eigentlich hatte sie Gracie nichts von ihrem Vorhaben sagen wollen, brachte es aber nicht fertig. Sie ging früh zu Bett, war jedoch so aufgeregt, dass sie erst lange nach Mitternacht einschlief.
    Am Morgen wurde sie ziemlich spät wach und musste sich beeilen. Sie hatte kaum Zeit für eine Tasse Tee. Sie trank ihn zu heiß und ließ die Hälfte stehen, als Tellman an die Tür klopfte.
    »Sagen Sie Mr. Pitt, dass er uns schrecklich fehlt, Ma’am«, sagte Gracie rasch und errötete ein wenig.
    »Das tue ich«, versprach Charlotte.
    Hinter Tellman sah sie den dunklen Umriss einer Droschke. Er wirkte schmal, sein Gesicht war hager, und zum ersten Mal ging ihr auf, wie sehr ihn Pitts Erniedrigung mitgenommen hatte. Er würde es vermutlich nie im Leben zugeben, aber er war Pitt wie auch seiner eigenen Überzeugung von dem, was Recht und Unrecht war, zutiefst ergeben. Er hatte Vorbehalte gegen Menschen mit Weisungsbefugnis, hatte die Schwächen des Systems und die Ungerechtigkeit durchschaut, die auf Klassenunterschiede und Chancenungleichheit zurückging, erwartete aber, dass sich Männer, die in der Hierarchie über ihm standen, an die vom Gesetz vorgegebenen Regeln hielten. Auf keinen Fall wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sie einen der Ihren grundlos fallen ließen. Woher Pitt auch immer gekommen sein mochte, er hatte sich seine Stellung aus eigener Kraft erarbeitet. Das schützte ihn nach Tellmans Wertvorstellungen vor Verrat aus den eigenen Reihen.
    So sehr er das geringe gesellschaftliche Bewusstsein der Angehörigen der höheren Schichten beklagen mochte, kannte er doch ihre moralischen Werte – jedenfalls hatte er das bisher geglaubt –, und die waren aller Ehren wert. Nur deshalb war es erträglich, sich ihrer Führerschaft zu unterwerfen. Mit einem Mal stimmte all das nicht mehr. Wenn die Angelpunkte einer vorgegebenen Ordnung zerfielen, kam es zu einer neuen und beängstigenden Art von Einsamkeit und zu einem Wirrwarr, das nicht seinesgleichen kannte.
    Sie gingen über den vom Tau feuchten Gartenweg zur Straße, wo er ihr in die Droschke half. Während sie schweigend durch die Stadt fuhren, fiel das klare, graue Licht des frühen Morgens auf die Fenster von Häusern und Läden, an denen sie vorüberkamen. Es waren schon viele Menschen unterwegs, Hausmädchen, Boten und Fuhrleute, die frische Waren für die Märkte brachten. Kurz bevor sie den Bahnhof der Untergrundbahn
erreichten, sahen sie schon Käuferschlangen vor den Milchwagen.
    Im Zug, der donnernd durch die finstere Röhre fuhr, war es nicht nur viel zu laut für eine Unterhaltung, Charlotte war auch schon in Gedanken bei Pitt. Auch wenn er nicht besonders lange fort war, dehnten sich die Wochen ohne ihn hinter ihr wie eine Wüste der Zeit. Sie überlegte, wie er aussehen mochte, ob er müde war, gesund oder krank, glücklich, sie zu sehen. Wie tief hatte ihn die Ungerechtigkeit getroffen? Hatte ihn der Zorn darüber, den er sicherlich empfand, verändert? Dieser Gedanke machte ihr so sehr zu schaffen, dass es sie fast körperlich schmerzte.
    Erst als Tellman, der neben ihr saß, aufstand und auf die Tür

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