Die Verschwoerung von Whitechapel
Recht gehabt hatte. Es war wichtig, das zu beweisen, damit die alte Wunde der Schande seines Vaters verheilen konnte. Wütend, verletzt und hilflos wusste sie weder, was sie sagen sollte, noch, wie sie ihm alles so erklären konnte, dass er es verstand und er die Möglichkeit hatte, sich ebenso zu freuen, weil sie ihm nahe war, sein Gesicht sah und seine Stimme hörte.
»Es ist eine ganze Menge passiert«, sagte Tellman leise. Er nannte Pitt nur dann ›Sir‹, wenn er ihn ärgern wollte, und so brauchte er sich jetzt keine Mühe zu geben, sich durch eine so respektvolle Anrede nicht unabsichtlich zu verraten. »Ich weiß nicht alles, weshalb es besser sein dürfte, wenn Ihnen Mrs. Pitt das sagt. Es handelt sich um Dinge, die Sie unbedingt wissen müssen.«
Pitt hörte den Anflug von Furcht in seiner Stimme, und sein Ärger legte sich. Er sah Charlotte an.
Am liebsten hätte sie ihn gefragt, wie es ihm gehe, ob ihm nichts fehle, wie seine Unterkunft sei, ob ihn seine Wirtsleute ordentlich behandelten, er ein sauberes Bett und genug Kissen habe, genug zu essen bekomme, und wie das Essen sei. Vor allem aber sollte er wissen, dass sie ihn liebte und seine Abwesenheit für sie quälender war und eine größere Einsamkeit bedeutete, als sie sich hätte vorstellen können. Ihr fehlte die
Gemeinsamkeit: das Lachen, das Gespräch mit ihm, das Teilen der guten und der weniger guten Dinge, die der Tag brachte, seine Berührung und einfach das Bewusstsein, dass er da war.
Doch sie sagte, was sie vorbereitet hatte und was ihm Tellman wahrscheinlich ebenso gut hätte selbst sagen können. Sie fasste alles sehr knapp und sachlich.
»Ich war mehrfach bei Martin Fetters’ Witwe.« Ohne den verblüfften Ausdruck auf seinem Gesicht zu beachten, fuhr sie rasch fort, bevor er sie unterbrechen konnte: »Ich wollte feststellen, warum man ihn umgebracht hat. Es musste ja schließlich einen Grund dafür geben.« Sie hielt inne, als eine Gruppe von Fabrikarbeiterinnen vorüberkam, die sich laut unterhielten und Pitt, Tellman und Charlotte mit unverhohlener Neugier musterten.
Unbehaglich trat Tellman von einem Fuß auf den anderen.
Pitt tat einen Schritt zur Seite, sodass es aussah, als gehöre Charlotte zu Tellman.
Eine der Frauen lachte, dann zogen sie weiter.
Ein Gemüsefuhrwerk kam die Straße entlang.
Wenn sie lange dort stehen blieben und sich unterhielten, würde das auffallen, und das konnte Pitt gefährlich werden.
»Ich habe die meisten seiner Aufsätze gelesen«, sagte Charlotte knapp. »Er war ein leidenschaftlicher Verfechter der Republik und sogar bereit, an einer Revolution mitzuwirken. Ich nehme an, dass ihn Adinett getötet hat, als er dahintergekommen ist. Vermutlich traute er der Polizei nicht. Möglicherweise hätte ihm niemand geglaubt, oder es bestand, schlimmer noch, die Möglichkeit, dass ihre Spitzen auf Fetters’ Seite standen.«
Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. »Fetters war …« Er holte tief Luft, während ihm der Sinn des Gesagten aufging. »So ist das also.« Er blieb eine ganze Weile schweigend stehen und sah sie an. Seine Augen suchten auf ihren Zügen, als wolle er sich jede Einzelheit einprägen und bis zu den Gedanken hinter ihrer Stirn vordringen.
Dann rief er sich in die Gegenwart zurück, erinnerte sich an die belebte Straße und die Erfordernisse des Augenblicks.
Charlotte merkte, dass sie rot wurde, aber es war eine angenehme Wärme, die ihr bis ins innerste Wesen drang.
»In dem Fall hätten wir es mit zwei Verschwörungen zu tun«, sagte Pitt schließlich. »Eine um den Mörder von Whitechapel, der es darum zu tun ist, um jeden Preis den Thron zu schützen, und eine andere der Republikaner, die das genaue Gegenteil erreichen will, ebenfalls um jeden Preis mit unter Umständen noch schrecklicheren Folgen. Und niemand weiß, wer auf welcher Seite steht.«
»Ich habe mit Tante Vespasia darüber gesprochen, und sie lässt dich grüßen.« Bei diesen Worten musste Charlotte denken, wie unzulänglich sie waren, um die Kraft der Empfindungen wiederzugeben, die sie in Vespasia gespürt hatte. Doch zeigte ihr ein Blick auf Pitts Gesicht, dass er verstand. Sie entspannte sich wieder und lächelte ihm zu.
»Was hat sie gesagt?«, wollte er wissen.
»Dass ich vorsichtig sein soll«, gab sie mit kläglicher Stimme zur Antwort. »Tun kann ich ohnehin nichts, sondern mich höchstens weiterhin bemühen, Martin Fetters’ fehlende Papiere zu finden. Seine Frau ist sicher, dass es noch welche
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