Die Verschwoerung von Whitechapel
wies, merkte sie, wie oft sie die Fäuste geballt haben musste, denn ihre Finger schmerzten. Sie stand auf, als der Zug im Bahnhof Aldgate Street ruckend stehen blieb. Den Rest des Weges mussten sie zu Fuß gehen.
Inzwischen war es deutlich heller. Umso deutlicher sah man, dass die Straßen schmutziger waren als in Bloomsbury. Auch drängten sich hier weit mehr Fahrzeuge aller Art. Männer waren auf dem Weg zur Arbeit. Manche von ihnen trotteten mit gesenktem Kopf dahin, andere riefen einander munter etwas zu. Lag wirklich eine Spannung in der Luft, oder bildete sie sich das ein, weil sie wusste, was dort geschehen war, und Angst hatte?
Sie hielt sich dicht an Tellmans Seite, als sie auf der High Street nach Norden abbogen. Er hatte gesagt, sie würden zur Brick Lane gehen, weil Pitt dort auf seinem Weg zur Arbeit vorüberkam. Das also war Whitechapel. Sie dachte an die ursprüngliche Bedeutung des Namens ›weiße Kapelle‹. Wie wenig er doch auf dies schmutzige Industrieviertel passte! Dort gab es enge Straßen und immer wieder scharf abknickende Gässchen, das Auge nahm von Staub bedeckte graue Fenster wahr, von denen viele zerbrochen waren, schmutzigen Rauch, der zahllosen Kaminen entquoll, und die Nase offene Abwasserkanäle und Abfallgruben. So dicht lag das Entsetzen der Vergangenheit unter der Oberfläche, dass sie es schmerzhaft spürte.
Tellman schritt rasch aus, um nicht unter den Männern aufzufallen,
die zur Arbeit in den Zuckersiedereien, Lagerhäusern und an den Verladeplätzen eilten. Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, aber vielleicht war das genau richtig. Um diese Tageszeit gingen Frauen nicht gemessenen Schrittes neben Männern her, als wären sie Liebespaare.
Mit einem Mal ertönte raues Gelächter, als jemand klirrend eine Flasche zerschlug. Das Geräusch war ihr erstaunlich unangenehm. Sie dachte dabei nicht daran, dass ein nützlicher Gegenstand zerbrochen sein konnte, wie sie es zu Hause getan hätte, sondern daran, dass sich die gezackten Enden als Waffe eignen würden.
Inzwischen hatten sie die Brick Lane erreicht.
Als Tellman unvermittelt stehen blieb, fragte sie sich, warum. Dann sah sie Pitt, und ihr Herz schlug schneller. Wie alle Männer dort ging er mit großen Schritten auf der anderen Straßenseite, sah sich aber im Unterschied zu ihnen aufmerksam um, nahm wohl in sich auf, was um ihn herum vorging. Sie hatte ihn lediglich an der vertrauten Art zu gehen erkannt. Er war schäbig gekleidet; seine Jacke hatte auf dem Rücken einen Riss und saß schief wie üblich. Die Krempe seines Hutes war zerbeult. Emily hatte ihm so schöne Schuhe geschenkt, doch er trug ein altes Paar. Links war die Sohle los, und statt Schnürsenkel hatte er Bindfaden eingezogen. Nach einer Weile wandte er sich um und sah sie.
Er zögerte. Er rechnete nicht mit ihr – wahrscheinlich hatte er nicht einmal an sie gedacht –, aber etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, vielleicht, weil sie einfach dastand, statt zu gehen wie alle anderen.
Sie wollte auf ihn zu eilen, doch Tellman hielt sie mit eisernem Griff am Arm zurück. Sie wollte sich losreißen, begriff dann aber, dass man aufmerksam würde, wenn sie zu Pitt hinüberlief. Er war dort bekannt, und die Leute würden wissen wollen, wer sie war. Was hätte er ihnen antworten können? Es würde nur zu Klatsch und Fragen führen. Also wartete sie mit vor Verlegenheit hochrotem Gesicht, einen Fuß auf dem Randstein.
Ihre kurze Bewegung hatte genügt. Pitt hatte sie erkannt. Er überquerte die Straße, wobei er sich zwischen den Fuhrwerken
hindurchschlängeln musste. Als er die beiden erreichte, nickte er ihr kurz zu, tat dann aber, als rede er mit Tellman.
»Was tust du hier?«, fragte er leise. »Was ist passiert?« Sie hörte, welche Empfindungen in seiner Stimme schwangen.
Sie sah ihn aufmerksam an und versuchte sich jede Linie seines Gesichts einzuprägen. Er sah müde aus. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Zwar hatte er sich frisch rasiert, aber seine Haut wirkte rau. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihn zu trösten, ihn mit nach Hause zu nehmen, in die Wärme einer sauberen Küche, umgeben vom Geruch frischer Wäsche und des gescheuerten Küchentisches, in die Stille des Gartens, wo es nach feuchter Erde und gemähtem Rasen roch, zur Tür, welche die Welt für einige Stunden lang ausschloss! Wie sehnte sie sich danach, ihn in die Arme zu schließen!
Jetzt aber kam es in erster Linie darauf an, den anderen zu zeigen, dass Pitt
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