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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verschuldet, dass die Wut nur noch sehr gedämpft ist und für das, was du angesprochen hast, nicht heiß genug brennt.«
    »Das kommt auf die an, bei denen er in der Kreide steht«, sagte Mario ernsthaft. »Bankiers, Spekulanten, Menschen am Hof oder andere Reiche sind das Risiko in gewisser Weise
bewusst eingegangen, und man kann sagen, dass sie ihr Schicksal verdient haben. Anders sieht es aus, wenn der Geldgeber dadurch selbst ruiniert worden ist und andere mit sich in den Abgrund reißt.«
    Langsam erloschen die Lichter. Stille trat ein. Vespasia merkte es kaum.
    »Und ist es wahrscheinlich, dass es dazu kommt, Mario?«
    Das Orchester spielte die ersten schicksalsschweren Noten.
    Sie spürte, wie sich seine Hand in der Dunkelheit sanft auf die ihre legte. Wann immer er sie berührt hatte, hatte er ihr trotz seiner Kraft nie wehgetan. Lediglich das Herz hatte er ihr gebrochen.
    »Natürlich wird es geschehen«, gab er zur Antwort. »Ähnlich Wagners Göttern steuert der Kronprinz auf seine Selbstzerstörung zu und wird ganz Walhall mit sich ins Unglück reißen, Gutes wie Schlechtes. Die Menschen haben sich nie darauf verstanden, dergleichen zu verhindern. Es ist ihre Tragödie, dass sie immer erst dann zuhören wollen, wenn es zu spät ist. Diesmal aber gibt es Männer mit Weitblick und praktischem Verstand. England vernimmt als letzte der Großmächte die Klage des kleinen Mannes über die Ungerechtigkeit, aber vielleicht lernt es gerade deshalb von denen unter uns, denen es nicht gelungen ist, sich Gehör zu verschaffen – vielleicht habt ihr Engländer Erfolg damit.«
    Der Vorhang hob sich und zeigte die aufwändige Kulisse. Im Schein der Bühnenbeleuchtung sah Vespasia zu Mario hin und erkannte auf seinen Zügen die Hoffnung, den Mut, es trotz aller verlorenen Schlachten erneut zu versuchen.
    Fast wünschte sie um seinetwillen, seine Hoffnung würde sich erfüllen. Die Korruption des alten Systems reichte tief, war aber in vielen Fällen Bestandteil des Lebens. Sie ging auf Unwissenheit und nicht auf bewusste Bosheit zurück, auf Blindheit gegenüber dem Leben, aber nicht auf Grausamkeit. Sie konnte Charles Voiseys Argumente gegen ererbte Vorrechte verstehen, kannte jedoch die Menschennatur gut genug, um zu wissen, dass Machtmissbrauch nicht auf bestimmte Personen beschränkt ist und Könige wie kleine Leute gleichermaßen dafür anfällig sind.
    »Tyrannen werden nicht geboren, sondern gemacht, mein Lieber«, sagte sie leise. »Sie nutzen jede Gelegenheit, die sich ihnen bietet, ganz gleich, welche Bezeichnung sie sich dann zulegen.«
    Er lächelte. »Du hältst zu wenig vom Menschen. Du musst Vertrauen haben.«
    Sie schluckte die Tränen herunter und sagte nichts dagegen.

Kapitel 11
    N ach dem Abschied von Charlotte setzte Pitt seinen Weg zur Zuckersiederei fort. Der Übelkeit erregende schwere Geruch stieg ihm in die Nase und würgte ihn in der Kehle, aber nicht einmal die Vorstellung, dass er unter Umständen dort würde Nachtwache halten müssen, konnte das Glück dämpfen, das er empfand, weil er sie gesehen hatte, wenn auch nur kurz. Sie war genau so, wie er sich in den langen, einsamen Nächten an sie erinnert hatte: ihre Wärme, die Linie ihrer Wangen, ihre Lippen, vor allem aber ihr Blick, mit dem sie von ihm Abschied genommen hatte.
    Er trat durch das Tor in den von hohen Gebäuden umstandenen Fabrikhof. Männer drängten links und rechts von ihm hinein. Wie fast jeden Morgen war er gekommen, um sich zu erkundigen, ob man ihn in der kommenden Nacht brauchen könne.
    »Ja«, gab Billy zurück. Der Ober-Nachtwächter wirkte müde, seine blauen Augen waren stumpf und fast in den Falten seiner Haut versunken.
    »Gut«, sagte Pitt und empfand Bedauern. Lieber hätte er die ganze Nacht geschlafen. »Wie geht es deiner Frau?«
    Billy schüttelte den Kopf. »Schlecht«, sagte er und bemühte sich zu lächeln.
    »Das tut mir Leid.« Pitt meinte es ehrlich. Er fragte jedes Mal und bekam unterschiedliche Antworten. Beiden war klar, dass es mit ihr zu Ende ging. Pitt blieb noch eine Weile und redete
mit dem Mann. Billy war einsam und freute sich, wenn sich eine mitfühlende Seele seine Kümmernisse anhörte.
    Anschließend eilte Pitt mit Verspätung zu Sauls Seidenweberei. Auch bei seinem ersten Botengang verspätete er sich, weil ein Fuhrwerk seine aus Fässern bestehende Ladung verloren hatte und er dem Lastkutscher beim Wiederaufladen half. Die Freude, die er nach wie vor empfand, ließ ihn die grauen

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