Die Verschwoerung von Whitechapel
»Natürlich. Glaubst du mir das nicht?«
Er nickte. »Doch. Aber ich will nicht ohne ihn sein.«
Es gelang ihr, das Lächeln beizubehalten. »Ich auch nicht.«
Pitt fuhr mit der Bahn in den Norden von Spitalfields. An der Adresse, die ihm Cornwallis gegeben hatte, fand er ein kleines Haus hinter einem Laden. Victor Narraway, ein dürrer Mann mit vollem dunklen Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, erwartete ihn bereits. Der Mann wirkte klug und zugleich äußerst gefährlich.
Er musterte Pitt aufmerksam.
»Setzen Sie sich«, forderte er ihn auf und wies auf den einfachen Holzstuhl dem seinen gegenüber. Außer den beiden Stühlen standen nur noch ein Tisch und eine Kommode dort, deren Schubladen sämtlich geschlossen waren. Pitt vermutete, dass es sich um eine frühere Spülküche handelte.
Er nahm Platz. Er hatte seinen abgetragensten Anzug an. Normalerweise trug er ihn, wenn er sich unauffällig in den ärmeren Stadtteilen bewegen wollte. Das war schon lange nicht mehr nötig gewesen, da er inzwischen andere mit dieser Aufgabe betraute. Er fühlte sich unbehaglich, unsauber und in jeder Hinsicht im Nachteil. Es war, als hätte man ihm die Jahre seiner Erfolge entrissen, als wären diese ein Traum oder eine Wunschvorstellung.
»Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie mir viel nützen können«, sagte Narraway finster.« Aber man soll ja einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen. Man hat Sie mir zugewiesen, und ich darf jetzt zusehen, wie ich damit zurecht komme. Bisher war ich der Ansicht, Ihre Spezialität sei die diskrete Behandlung von Skandalen in der feinen Gesellschaft. Spitalfields dürfte kaum das richtige Pflaster für Sie sein.«
»Ist es auch nicht«, gab Pitt mürrisch zurück. »Meines war Bow Street.«
»Und wo zum Teufel haben Sie so zu sprechen gelernt?« Narraway hob die Brauen. Zwar sprach er selbst ausgesprochen
gepflegt, das Vorrecht derer, die in die Mittelschicht hineingeboren wurden und eine gute Ausbildung bekamen, aber nicht besser als Pitt.
»Ich habe gemeinsam mit dem Sohn des Hauses Unterricht bekommen«, gab Pitt zur Antwort. Noch jetzt stand das Bild deutlich vor seinen Augen, das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, der Privatlehrer mit Rohrstock und Brille, die endlosen Wiederholungen, bis er zufrieden war. Zuerst hatte er sich dagegen aufgelehnt, dann aber hatte es ihn gefesselt. Inzwischen war er dankbar.
»Ein Glück für Sie«, sagte Narraway mit feinem Lächeln. »Falls Sie uns hier von Nutzen sein wollen, müssen Sie das aber so schnell wie möglich ablegen. Zwar sehen Sie aus wie ein Hausierer oder Landstreicher, aber sobald Sie den Mund auftun, könnte man glauben, dass Sie geradewegs aus Oxford kommen.«
»Ich kann durchaus wie ein Hausierer sprechen, wenn ich das will«, gab Pitt zur Antwort. »Allerdings nicht wie einer von hier. Das zu probieren wäre ausgesprochen dumm – die kennen ihre eigenen Leute.«
Narraways Züge entspannten sich zum ersten Mal, und ein Anflug von Wohlwollen trat in seine Augen. Es war nichts als ein erster Schritt. Er nickte.
»Kaum jemand in London macht sich eine Vorstellung davon, wie ernst die Lage hier ist«, sagte er finster. »Die meisten vermuten zwar, dass es eine allgemeine Unruhe gibt, aber es ist weit mehr.« Aufmerksam sah er Pitt an. »Hier geht es nicht um verrückte Einzelgänger mit einer Stange Dynamit, obwohl wir auch mit denen zu tun haben.« Einen Augenblick lang trat ein spöttischer Ausdruck auf sein Gesicht. »Erst vor ein oder zwei Monaten hatten wir mit einem zu tun, der Dynamit durch die Toilette spülen wollte und damit das Abflussrohr verstopft hat. Seine Wirtin hat einen Rohrreiniger kommen lassen. Der arme Teufel hatte keine Ahnung, was er da gefunden hatte, und dachte, er könnte damit Risse in der Wand ausbessern oder dergleichen. Er hat es zum Trocknen auf den Dachboden gelegt und das halbe Haus damit in die Luft gejagt.«
Es war eine Farce, aber eine bittere mit tödlichem Ausgang.
Selbst wenn man über diese groteske Situation lachte, blieb die Tragödie.
»Wenn wir nicht hinter einzelnen Nihilisten her sind«, fragte Pitt, »hinter wem dann?«
Narraway lächelte, entspannte sich ein wenig und schlug die Beine übereinander. »Die irische Frage macht uns schon lange zu schaffen, und ich nehme nicht an, dass das Problem in absehbarer Zeit verschwindet. Es ist aber zurzeit nicht unsere Hauptsorge. Zwar gibt es immer noch einige Fenier, aber die verhalten sich ziemlich
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