Die Verschwoerung von Whitechapel
ruhig, und wir haben im letzten Jahr nur wenige festgenommen. Seit längerem beobachten wir aber eine allgemeine Stimmung gegen die Katholiken.«
»Ist sie gefährlich?«
Narraway erkannte den Zweifel auf Pitts Zügen. »Nicht für sich genommen«, sagte er schroff. »Sie müssen noch eine Menge lernen. Am besten fangen Sie damit an, dass Sie den Mund halten und zuhören! Besorgen Sie sich irgendeine Arbeit, um Ihre Anwesenheit hier glaubwürdig zu machen. Ziehen Sie dann durch die Straßen. Halten Sie die Augen offen und den Mund zu. Achten Sie auf alles, was geredet wird. Hier herrscht eine Atmosphäre der Verbitterung, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch nicht da war. Erinnern Sie sich an den Blutigen Sonntag von ’87 und die Morde in Whitechapel im Herbst danach? In den vier Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich vieles verschlimmert.«
Selbstverständlich erinnerte sich Pitt wie jeder andere an den Herbst der Jahre 1887 und 1888, doch war ihm nicht klar gewesen, dass Gewalttaten nach wie vor in der Luft lagen. Er hatte angenommen, dabei habe es sich um isolierte Ausbrüche gehandelt, wie sie von Zeit zu Zeit auftreten. Ob Narraway übertrieb, womöglich, um sich wichtig zu machen? Zwischen den einzelnen Abteilungen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständigen Kräfte gab es viel Rivalität. Jeder bemühte sich, sein eigenes Gebiet nicht nur abzugrenzen, sondern auch auf Kosten der anderen zu vergrößern.
Narraway las in seinen Zügen, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen.
»Bitte keine übereilten Schlüsse. Seien Sie ruhig skeptisch,
aber tun Sie, was man Ihnen sagt. Ich weiß nicht, ob Donaldson mit dem, was er im Zeugenstand über Sie gesagt hat, Recht hatte. Jedenfalls gehorchen Sie mir, solange Sie hier beim Sicherheitsdienst sind – andernfalls schicke ich Sie zurück. Sie können dann zusehen, wie Sie den Rest Ihres Lebens zusammen mit Ihrer Familie in Spitalfields oder einem entsprechenden Ort fristen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Ja, Sir«, gab Pitt zur Antwort. Er sah entsetzt, auf was für einem gefährlichen Weg er sich befand. Er hatte keine Freunde und viel zu viele Feinde. Auf keinen Fall konnte er es sich leisten, Narraway eine Handhabe zu liefern, damit ihn dieser auf die Straße setzte.
»Na bitte.« Narraway schlug die Beine wieder übereinander. »Dann hören Sie mir gut zu. Von mir aus können Sie denken, was Sie wollen, aber sofern Sie das hier überleben oder mir gar von Nutzen sein wollen, wird getan, was ich sage.«
»Ja, Sir.«
»Und hören Sie mit diesem affigen Gehabe auf! «, knurrte ihn Narraway an. »Wenn ich einen sprechenden Papagei haben wollte, würde ich mir einen kaufen!« Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte. »Hier im East End herrscht ein Ausmaß an Armut und Verzweiflung, das sich die Leute im übrigen London nicht vorstellen können. Männer, Frauen und Kinder verhungern oder sterben an Krankheiten, die Folgen des Hungers sind.« Vor unterdrückter Wut klang seine Stimme rau. »Die meisten Neugeborenen sterben schon bald, nur die allerwenigsten kommen durch. Unter solchen Voraussetzungen gilt das Leben eines Menschen nicht viel. Hier gelten andere Werte. Wo die Menschen nicht viel zu verlieren haben, kommt es leicht zu Konflikten. Eine Situation, in der hunderttausend Menschen nichts zu verlieren haben, ist wie ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann, und dann haben wir eine Revolution.«
Er sah Pitt unverwandt an. »In einer solchen Situation bedeuten die Katholiken, die Nihilisten und die Juden eine ebenso große Gefahr wie die Anarchisten mit ihrem Dynamit. Sie sind der Funke, der die Explosion auslösen kann, selbst wenn das nicht ihre Absicht sein sollte. Dazu genügt der kleinste Anlass.«
»Was ist denn mit den Juden?«, erkundigte sich Pitt neugierig.
»Das sieht anders aus, als wir gedacht hatten«, gab Narraway zurück. »Hier leben ziemlich viele liberale Juden, die nach den fehlgeschlagenen 48er Revolutionen vom europäischen Festland gekommen sind. Wir hatten angenommen, dass sie ihre Unzufriedenheit mit einschleppen, das hat sich aber bislang nicht bewahrheitet.« Er zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln. »Das heißt aber nicht, dass es nicht noch dahin kommen kann. Hinzu kommt, dass es hier eine ausgeprägte antisemitische Stimmung gibt, die sich vorwiegend aus Angst und Unwissenheit speist. Wenn es den Leuten schlecht geht, suchen sie nach einem Sündenbock und
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