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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sagte Charlotte. Aufs Neue kam ihr das Elend ihrer Situation zu Bewusstsein. »Gerade deshalb hat man ihn dort hingeschickt, zur Strafe, weil er die Indizien im Fall Adinett entdeckt und vor Gericht darüber ausgesagt hat. Ich sagte ja schon: Man hat ihm die Leitung der Wache in der Bow Street entzogen.«
    Gracie krümmte sich wie unter einem Hieb. Sie wirkte sehr klein und schmal. Sie zweifelte Charlottes Worte nicht an – dafür hatte sie im Leben zu viel Ungerechtigkeit miterlebt.
    »Damit tun die ihm bitter Unrecht«, sagte sie ruhig. »Aber man wird ihm ja wohl in dem Dienst was zahlen, oder?«
    »Gewiss. Allerdings weiß ich nicht, wie viel!« An diesen Punkt, der Gracie sofort eingefallen war, hatte Charlotte noch gar nicht gedacht. Gracie war zu lange arm gewesen, als dass sie das je vergessen würde. Nicht nur bittere Kälte hatte sie als Kind gelitten, sondern sie wusste auch, wie weh Hunger tat. Sie hatte von anderen fortgeworfene Reste aufgelesen und sich glücklich geschätzt, wenn sie eine Scheibe Brot ergattern konnte. In einer solchen Situation plant niemand für den nächsten Tag, ganz zu schweigen von der nächsten Woche.
    »Sicher genügt es uns!«, sagte Charlotte betont munter. »Möglicherweise können wir uns keinen Luxus leisten, werden aber genug zu essen haben. Außerdem ist bald Sommer, da brauchen wir nicht mehr so viel Kohlen. Es gibt einfach eine Weile keine neuen Kleider, kein neues Spielzeug und keine Bücher.«
    »Und kein Hammelfleisch«, fügte Gracie hinzu. »Heringe sind gut und obendrein billig. Ich weiß auch, wo man gute Suppenknochen und so kriegt. Wir kommen schon durch.« Sie holte tief Luft. »Trotzdem is das bitteres Unrecht, was die da mit ihm machen.«
     
    Es den Kindern zu erklären war nicht leicht. Die zehneinhalbjährige Jemima war nicht mehr ganz so pummelig wie früher; in ihrer schlanken Gestalt war bereits die junge Frau zu erahnen, die sie bald werden würde.
    Der zwei Jahre jüngere Daniel war kräftiger gebaut, aber mit seiner weichen Haut auf jeden Fall noch ein Kind, auch wenn sich die Gesichtszüge langsam deutlicher herausbildeten. Der Haarwirbel an seinem Hinterkopf war ebenso widerspenstig wie bei Pitt.
    Charlotte hatte ihnen gesagt, dass ihr Vater eine ganze Weile nicht nach Hause kommen würde, und sich bemüht, ihnen klarzumachen, dass das nicht seine eigene Entscheidung war und sie alle ihm entsetzlich fehlen würden.
    »Warum macht er es denn«, fragte Jemima sofort, »wenn er es doch gar nicht will?« Sie sträubte sich gegen diese Vorstellung, und alles in ihrem Gesicht zeigte ihren Widerwillen.
    »Manchmal muss jeder etwas tun, was er nicht möchte«, gab Charlotte zur Antwort. Sie bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, denn ihr war klar, dass die Kinder auf jeden Fall die Empfindung hinter den Worten hören würden. Sie musste alles in ihren Kräften Stehende tun, um ihren eigenen Kummer vor ihnen zu verbergen. »Es hat mit Pflicht und damit zu tun, was sich gehört.«
    »Warum denn er?«, ließ Jemima nicht locker. »Das könnte doch auch jemand anders machen. Ich will nicht, dass er fortgeht.«
    Charlotte liebkoste sie tröstend. »Ich auch nicht. Aber wenn wir uns das zu Herzen nehmen, ist es für euren Papa umso schwerer. Ich habe ihm gesagt, dass wir alle lieb zueinander sein werden und versuchen wollen, es auszuhalten, bis er wiederkommt. Er weiß, dass er uns fehlt.«
    Jemima dachte eine Weile darüber nach, unsicher, ob sie die Dinge hinnehmen sollte oder nicht.
    »Macht er da auch Jagd auf böse Menschen?«, ließ sich Daniel zum ersten Mal vernehmen.
    »Ja«, bestätigte Charlotte rasch. »Man muss sie an ihrem Tun hindern, das kann niemand so gut wie er.«
    » Warum?«
    »Weil er sehr klug ist. Andere probieren das schon eine ganze Weile, haben aber nichts erreicht. Deswegen hat man euren Papa da hingeschickt.«
    »Aha. Dann ist das sicher in Ordnung.« Nach längerem Nachdenken fragte er: »Ist es gefährlich?«
    »Er muss nicht mit ihnen kämpfen«, sagte Charlotte mit größerer Gewissheit, als sie empfand. »Er soll nur dahinterkommen, wer sie sind.«
    »Und muss er allein dafür sorgen, dass sie aufhören?«, fragte Daniel sachlich mit hochgezogenen Brauen.
    »Nein«, beruhigte ihn Charlotte. »Er sagt anderen Polizisten Bescheid, und dann machen sie das zusammen.«
    »Bestimmt?« Daniel entging nicht, dass sich seine Mutter Sorgen machte, auch wenn er nicht wusste, warum.
    Sie zwang sich zu einem Lächeln.

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