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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verfallen als Erstes auf Menschen, die erkennbar anders sind als sie selbst, denn bei denen fällt das am leichtesten.«
    »Ich verstehe.«
    »Vermutlich nicht«, sagte Narraway herablassend. »Aber wenn Sie Augen und Ohren offen halten, werden Sie dahinterkommen. Ich habe für Sie in der Heneagle Street eine Unterkunft bei einem gewissen Isaak Karansky besorgt. Er ist ein polnischer Jude, der in der Gegend geachtet wird. Dort müssten Sie einigermaßen sicher sein und die Möglichkeit haben, sich umzusehen, umzuhören und etwas in Erfahrung zu bringen.«
    Narraways Anweisungen waren nach wie vor ziemlich allgemein gehalten, und so hatte Pitt keine rechte Vorstellung, was von ihm erwartet wurde. Er war es gewöhnt, genau umrissene Fälle zu untersuchen, hatte bisher mit Dingen zu tun gehabt, die bereits geschehen waren, es war seine Aufgabe gewesen, die näheren Umstände zu ermitteln, festzustellen, wer die Tat begangen hatte, auf welche Weise der Täter vorgegangen war und möglichst auch die Gründe dafür. Der Versuch, etwas über unbekannte Dinge zu erfahren, die unter Umständen in der Zukunft stattfinden würden oder auch nicht, war etwas völlig anderes und für ihn gänzlich ungreifbar. Wo sollte er anfangen? Es gab nichts zu untersuchen, niemanden zu befragen und – wichtiger noch – er hatte keinerlei Befugnisse. Das war das Schlimmste von allem.
    Erneut übermannte ihn der Eindruck, schon früher versagt zu haben und das auch künftig zu tun. Er würde der Aufgabe auf keinen Fall gewachsen sein, denn sie erforderte Fähigkeiten und Kenntnisse, die er nicht besaß. Er war fremd am Ort, ein krasser Außenseiter in Bezug auf alles, worauf es ankam. Man hatte ihn nicht dorthin geschickt, weil man annahm, er werde von Nutzen sein, sondern als Strafe dafür, dass er die Anklage gegen Adinett unterstützt und damit Erfolg gehabt hatte. Nur ein Gutes hatte die Sache: Es war eine Art Anstellung, mit der er ein gewisses Einkommen für Charlotte und die Kinder verdienen konnte. Allerdings überlagerten Angst und Wut seine Dankbarkeit.
    Er musste es versuchen! Er brauchte mehr Informationen von Narraway, und sei es um den Preis, dass er seinen Stolz hintanstellte und ihn fragte. Wenn er diesen trübseligen winzigen Raum erst verlassen hatte, war es dafür zu spät. Er wäre, was seine Tätigkeit anging, mehr auf sich allein gestellt als je in all den Jahren zuvor.
    »Sind Sie der Ansicht, dass es jemanden gibt, der die Dinge mit Absicht zu einem Ausbruch von Gewalt treibt, oder würde es einfach durch diesen oder jenen Zufall dazu kommen?«, fragte er.
    »Wie immer ist Letzteres durchaus möglich«, teilte ihm Narraway mit. »Nur dürfte es diesmal anders sein, doch würde man vermutlich dafür sorgen, dass es trotzdem wie ein spontaner Ausbruch aussieht. Es gibt weiß Gott genug Armut und Ungerechtigkeit, um eine solche Sache am Kochen zu halten, wenn der Ausbruch erst einmal erfolgt ist. Das Ausmaß an religiöser Intoleranz und Rassenhass reicht für einen offenen Krieg auf der Straße ohne weiteres aus. Das zu verhindern ist unsere Aufgabe, Pitt. Auf diesem Hintergrund erscheint ein Mord mehr oder weniger ziemlich banal, nicht wahr, fast unbedeutend – natürlich nicht denen, die er trifft, und denen, die unter seinen Folgen leiden, was?« Seine Stimme klang wieder scharf. »Und sagen Sie mir bloß nicht, dass alle Tragik oder Ungerechtigkeit auf Einzelne zurückgeht – das weiß ich durchaus! Selbst eine noch so gute Gesellschaft ist unfähig, die Folgen von Neid, Habgier und Wut, lauter Äußerungen von Einzelpersonen, aufzuheben,
und ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt keine, die dazu je imstande sein wird. Wir haben es hier mit der Art von Wahnsinn zu tun, bei dem niemand sicher ist und alles zerstört wird, was sinnvoll und wertvoll ist.«
    Pitt sagte nichts. Seine finsteren Gedanken ängstigten ihn.
    »Haben Sie je etwas über die französische Revolution gelesen?«, fragte Narraway. »Ich meine die große von 1789, nicht das Fiasko in jüngerer Zeit.«
    »Ja.« Ein Schauer überlief Pitt, und er musste wieder an die Stunden im Unterrichtszimmer des großen Herrenhauses denken. Ihm trat vor Augen, was man ihm damals ausgemalt hatte: wie die Straßen von Paris mit dem Blut von Menschen getränkt waren, während die Guillotine tagein, tagaus ihr Werk verrichtete. »Das absolute Entsetzen«, sagte er.
    »So ist es.« Narraway presste die Lippen aufeinander. »Paris ist uns sehr nahe, Pitt. Glauben Sie

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