Die Verschwoerung von Whitechapel
rasch. »Meine Tante. Ich hab sie nur nie kennen gelernt. Die … die is vor Jahren verschwunden, so um ’87 oder’88 rum. Keiner hat mir gesagt, dass sie verrückt war. Na ja, kann man ja auch verstehen.«
»Tut mir Leid.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »So was kann jedem passieren. Das hab ich auch dem jungen Mann gesagt, der neulich nach ihr gefragt hat. Aber er war kein Verwandter.« Er lächelte ihr zu. »Sie hätte nirgends besser aufgehoben sein können als hier, bestimmt. Soll ich immer noch nach deinem Opa sehen?«
»Nein, danke. Vielleicht hab ich mich ja auch geirrt.«
»Tut mir Leid«, wiederholte er.
»Ja, mir auch.« Sie wandte sich um und verließ den Raum.
Sie schloss die Tür leise hinter sich und eilte davon, bevor der Mann merken konnte, wie aufgeregt sie war.
Draußen auf der Straße eilte sie zur Haltestelle der Pferde-Omnibusse, so schnell ihre Füße sie trugen. Jetzt musste sie rasch nach Hause zurückkehren und versuchen, ihre Arbeit so gut wie möglich aufzuholen. Wenn sie Glück hatte, würde Tellman am Abend kommen, und sie konnte ihm sagen, was sie herausgefunden hatte. Er wäre bestimmt tief beeindruckt. Während sie im Sonnenschein in der Schlange wartete, ohne sich von der kräftigen Brise beeindrucken zu lassen, trällerte sie ein Liedchen vor sich hin.
»Wo waren Sie?«, fragte Tellman. Sein Gesicht war bleich und angespannt.
»In der Cleveland Street«, gab Gracie zurück und goss den Tee ein. »Remus beobachte ich dann morgen.«
»Auf keinen Fall! Sie bleiben hier, wo Sie in Sicherheit sind, und tun Ihre Arbeit!«, gab er schroff zurück und beugte sich über den Tisch. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Seine Wangen waren eingefallen. Sie hatte ihn noch nie so müde gesehen.
Eigentlich war sie nicht bereit, sich von ihm sagen zu lassen, was sie tun oder lassen sollte. Andererseits gefiel es ihr, dass er sich um sie Sorgen machte und nicht wollte, dass sie in Gefahr geriet. Es war ein angenehmes Gefühl. Sie hörte die Besorgnis aus seiner Stimme heraus und begriff, dass es ihm damit ernst war. Sie sah in seinen Augen, dass ihr Wohl ihm wirklich am Herzen lag. Ihn mochte das ärgern, und vielleicht bestritt er es sogar im nächsten Augenblick, doch das Bewusstsein bereitete ihr Wohlbehagen.
»Woll’n Se nich hören, was ich rausgekriegt hab?«, fragte sie. Sie konnte es nicht abwarten, ihm alles zu berichten.
»Was?«, knurrte er und nahm einen Schluck aus der Teetasse.
»Es gibt eine gewisse Annie Crook, die Tochter von William Crook, der in St. Pancras gestorben is.« Ihre Worte überstürzten sich. »Man hat das arme Ding vor ungefähr fünf Jahren aus dem Tabakladen in der Cleveland Street entführt und ins Guy’s
Hospital gebracht, weil sie angeblich verrückt war. Niemand hat sie je wieder zu sehen gekriegt.« Gracie hatte den Kuchen geholt, aber in ihrer Aufregung ganz vergessen, ihm ein Stück abzuschneiden. »Jemand, der Sir William heißt und bei der Königin Arzt is, hat behauptet, sie wär verrückt und er könnt ihr nich helfen. Auch nach ihr hat vor kurzem jemand gefragt. Wahrscheinlich Remus. Das is aber noch nich alles! Man hat damals aus dem Haus von dem Maler in der Cleveland Street auch ’nen jungen Mann verschleppt, ’n gut gekleideten feinen Herrn. Er soll bei der Entführung wild um sich geschlagen haben.«
»Wissen Sie, um wen es sich da gehandelt hat?« Die Angaben hatten ihn förmlich elektrisiert, sodass er weder an seinen Zorn noch an den Kuchen dachte.
»Der Junge im Laden von dem Pfeifenmacher hat gemeint, das wär der Liebhaber von dieser Annie gewesen«, sagte sie. »Er weiß es aber nich genau. Er hat auch gesagt, dass sie ’n anständiges Mädchen war, katholisch, und ich soll keine Skandalgeschichten über sie erzählen, weil das nich stimmen würde.« Sie holte tief Luft. »Vielleicht stecken die Familien dahinter, weil sie katholisch war und er nich?«
»Was könnte das mit Adinett zu tun haben?«, sagte Tellman mit finsterer Miene und gespitzten Lippen.
»Ich weiß nich! Lassen Sie’s mich rauskriegen!«, bat sie. »Scheinbar gibt’s ja ’ne Menge Leute, die nich ganz richtig im Kopf sind. Zum Beispiel der Arme, der in Northampton gestorben is. Glauben Sie, dass das Verrücktsein bei der Geschichte ’ne Rolle spielt? Vielleicht hat Mr. Fetters auch darüber Bescheid gewusst.«
Er schwieg eine Weile. »Möglich«, sagte er schließlich. Aber es klang nicht überzeugend.
»Se ha’m wohl Angst, was?«,
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