Die Verschwoerung von Whitechapel
elf. Sie ging zu Fuß bis zur Cleveland Street. Es gab dort nichts Bemerkenswertes zu sehen. Die Straße machte einen recht achtbaren Eindruck. Auf jeden Fall war sie deutlich breiter und gepflegter als die, in der sie geboren und aufgewachsen war. Zwar hielt sie keinem Vergleich mit der Keppel Street stand, aber das war nicht anders zu erwarten, denn sie lag immerhin im East End.
Wo fing man am besten an? Sollte sie einfach in den Tabakladen gehen oder erst einmal bei Leuten Erkundigungen einholen? Das mittelbare Vorgehen schien ihr günstiger. Wenn sie gleich hineinging und nichts erreichte, konnte sie danach nicht mehr unauffällig herumfragen.
Sie sah sich um. Ihr Blick fiel auf die abgetretenen Gehwege, das holprige Straßenpflaster, die von Schmutzkrusten bedeckten Backsteinfassaden der Häuser. Hier und da waren in den oberen Stockwerken Scheiben zerbrochen oder Fenster mit Brettern zugenagelt. Träge stieg Rauch aus diesem und jenem Kamin auf. Eingänge zu Hinterhöfen und Nebengässchen gähnten dunkel.
Was für Geschäfte gab es dort noch? Einen Tonpfeifenmacher und die Werkstatt eines Silberschmiedes. Von Pfeifen verstand sie ebenso wenig wie von Silber, traute sich aber am ehesten zu, über sie ein Gespräch anzuknüpfen. Also ging sie auf die andere Straßenseite und betrat den Laden. Ihre Geschichte hatte sie fertig im Kopf.
»Guten Morgen, Miss. Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der junge Mann hinter der Theke. Er mochte ein oder zwei Jahre älter sein als sie selbst.
»Morgen«, antwortete Gracie munter. »Ich hab gehört, Sie
ha’m die besten Pfeifen östlich von der St. Paul’s Kathedrale. Natürlich is das Geschmackssache, aber ich will was Besonderes für meinen Papa. Was haben Sie denn da?«
Der junge Mann, dem das Haar verwegen in die Stirn fiel, lächelte breit. »So so. Na ja, wer Ihnen das erzählt hat, hatte Recht.«
»Is schon ’ne Weile her«, versetzte sie ihm sogleich einen Dämpfer. »Er lebt nich mehr, der arme William Crook. Sagt Ihnen der Name was?«
»Eigentlich nich.« Er zuckte die Achseln. »Aber hier kommen hunderte durch. An was für ’ne Pfeife hatten Se denn so gedacht?«
»Vielleicht hat seine Tochter sie für ihn gekauft?«, spann sie ihren Faden weiter. »Die hat hier im Tabakladen gearbeitet.« Sie wies zum anderen Ende der Straße. »Haben Sie die vielleicht gekannt?«
Sein Gesicht erstarrte. »Annie? Natürlich. War ’n anständiges Mädchen. Ha’m Se se in letzter Zeit geseh’n? Vielleicht sogar noch dies Jahr?« Er sah sie flehend an.
»Wieso – ist Se denn nich mehr hier?«, gab sie zurück.
»Seit fünf Jahren hat sie hier keiner mehr geseh’n«, sagte er betrübt. »Eines Tages gab’s ’nen entsetzlichen Streit. ’n Haufen Fremde, richtige Schlägertypen, ha’m von einem Augenblick auf ’n andern damit angefangen. Mit zwei Kutschen sind se gekommen, eine vor Nummer fuffzehn, wo früher der Maler gelebt hat, und die andere vor Nummer sechs. Ich weiß das so genau, weil ich selber draußen auf der Straße war. Zwei Männer sind zum Maler rein und ha’m ’n paar Minuten später ’nen jungen Kerl rausgebracht. Er hat geschrien wie am Spieß und um sich geschlagen, aber es hat ihm nix geholfen. Sie ha’m ’n in den Wagen gepackt und sind auf und davon, wie wenn der Teufel hinter ihnen her wär.«
»Und die anderen?«, fragte sie atemlos.
Er beugte sich über die Theke vor. »Wie gesagt, sind die in Nummer sechs rein, ha’m die arme Annie da rausgezerrt und weggebracht. Seitdem hab ich sie nich mehr geseh’n und, soweit ich weiß, auch sonst keiner.«
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Wieso interessierten
sich Remus und John Adinett für eine Sache, die so lange zurücklag?
»Wer war denn der Mann, den die da mitgenommen hatten?«, erkundigte sie sich.
Er zuckte die Achseln.
»Was weiß ich. Auf jeden Fall ’n feiner Pinkel. Hatte Geld wie Heu und war hochelegant. Ganz ruhig. Sah gut aus, war groß und hatte schöne Augen.«
»Ob er Annies Liebhaber war?«, riet sie drauflos.
»Wird wohl so gewesen sein. Oft genug is er hergekommen.« Sein Gesicht verdüsterte sich, und sein Ton wurde trotzig. »Trotzdem war sie ’n anständiges Mädchen. Katholisch. Sie brauchen also gar nix Böses denken, denn das würde sowieso nich stimmen.«
»Vielleicht eine tragische Liebe?«, sagte sie, als sie das Mitgefühl auf seinen Zügen erkannte. »Wenn er kein Katholik war, hatten die Familien vielleicht was dagegen.«
»Schon
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