Die Verschwoerung von Whitechapel
fragte sie leise. »Dass es vielleicht nix mit Mr. Pitt zu tun hat und wir ihm nich helfen können?« Sie wünschte, sie hätte etwas sagen können, um ihn zu trösten, aber dies war die Wahrheit, und da sie beide in die Sache verstrickt waren, brauchten sie einander nichts vorzumachen.
Sie sah ihm an, dass er es fast bestritten hätte, dann aber überlegte er es sich anders.
»Ja«, gab er zu. »Remus ist überzeugt, dass er hinter einer großen Sache her ist, aber ich kann nicht richtig glauben, dass das der Grund für den Mord Adinetts an Fetters war. Auf der anderen Seite sehe ich nicht, wie Fetters sonst in diese Geschichte hineinpassen könnte.«
»Wir kriegen das raus«, sagte sie entschlossen. »Er muss es ja aus irgend’nem Grund gemacht haben. Wär doch gelacht, wenn wir nich dahinterkommen würden.«
Er lächelte. »Gracie, Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, sagte er leise, aber das Leuchten in seinen Augen strafte seine Worte Lügen.
»Und ob ich das weiß«, hielt sie dagegen, beugte sich vor und gab ihm einen sanften Kuss. Dann sah sie rasch beiseite und nahm das Messer, um ihm ein Stück Kuchen abzuschneiden. Auf diese Weise sah sie nicht, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und seine Hand so sehr zitterte, dass er die Tasse lieber nicht vom Tisch nahm, um nichts zu verschütten.
Kapitel 8
P itt arbeitete weiter in der Werkstatt des Seidenwebers und erledigte so viele Botengänge wie möglich, wobei er Augen und Ohren offen hielt. Nachts übernahm er von Zeit zu Zeit eine Wache in der Zuckersiederei. Bei diesen Gelegenheiten hörte er, im Schatten des großen Gebäudes stehend, außer dem beständigen Zischen der Tag und Nacht in Gang gehaltenen Dampfkessel gelegentlich Schritte, die auf den Pflastersteinen widerhallten. Der Geruch des als Melasse bezeichneten zähflüssigen Zucker-Rückstandes lag in der Luft wie eine übermäßig süße Fäulnis.
Manchmal unternahm er, seine Laterne in der Hand, einen Kontrollgang durch die Korridore im Inneren des Gebäudes. Die Stockwerke waren bewusst niedrig gehalten, um auf der gegebenen Grundfläche möglichst viele Geschosse unterzubringen. Er war von Schatten umgeben und hörte eine Unzahl leiser Geräusche. Mit den Männern, die dort arbeiteten, redete er kaum, sie sahen in ihm ohnehin einen Außenseiter. Um akzeptiert zu werden und ihr rückhaltloses Vertrauen zu genießen, hätte er Jahre dort verbringen müssen.
Immer häufiger spürte er unter der Oberfläche vermeintlich alltäglicher Gespräche unterdrückten Zorn, und zwar überall – in der Fabrik, auf den Straßen, in Geschäften und Gaststätten. Vor einigen Jahren hätte nichts weiter dahinter gesteckt, es wäre das übliche Murren gewesen, mit dem sich Menschen ihre Alltagssorgen von der Seele reden. Jetzt aber schwang darin
unterschwellig die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit mit, eine aufgestaute Wut, die sich jederzeit entladen konnte.
Am meisten Sorge aber bereitete ihm das immer wieder am Biertisch zu hörende Geflüster, bald werde sich etwas ändern, das ihm wie eine hier und da aufzuckende Hoffnung vorkam. Diese Männer waren keine Opfer des blinden Geschicks, sondern Tatmenschen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen.
Auch die bunte Vielfalt der Menschen, die dort in Spitalfields lebten, war ihm bewusst. Unter ihnen befanden sich Flüchtlinge aus allen Ländern Europas, die sich aus finanziellen, rassischen, religiösen oder politischen Gründen einer Verfolgung entzogen hatten. Er hörte ein Dutzend Sprachen und sah die verschiedensten Gesichter.
Am fünfzehnten Juni, einen Tag nachdem eine Serie von Vergiftungen in Lambeth alle Schlagzeilen bestimmt hatte, kehrte Pitt erschöpft ziemlich spät in die Heneagle Street zurück. Isaak wartete schon auf ihn. Sein Gesicht zeugte von Sorge, unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, als habe er schon seit vielen Nächten nicht genug geschlafen.
Pitt hatte eine gewisse Zuneigung zu ihm entwickelt, die nicht nur darauf zurückging, dass ihn Narraway an diesen Menschen empfohlen hatte. Isaak war klug, belesen und redete gern. Vielleicht genoss er es, nach dem Abendessen, wenn sich Lea noch in der Küche zu schaffen machte oder bereits zu Bett gegangen war, mit Pitt noch eine Weile beisammenzusitzen, weil dieser eigentlich nicht nach Spitalfields gehörte. Sie unterhielten sich über allerlei Fragen zu Philosophie und Glaubensdingen. Pitt erfuhr von ihm viel über die Geschichte seines Volkes in Russland und Polen. Bisweilen
Weitere Kostenlose Bücher