Die Verschwoerung von Whitechapel
gut zu mir, ich bin jetzt hier zu Hause.« Er lächelte. »Ich spreche sogar gut Englisch, nicht wahr?«
»Unbedingt«, stimmte Pitt zu. Er meinte es ehrlich.
Isaak lehnte sich zurück. »Jetzt erzählen Sie mir über den Ort, wo Sie aufgewachsen sind, auf dem Lande, mit den Wäldern, den Feldern und dem weiten offenen Himmel.«
Mit einem Blick auf den unabgeräumten Tisch fragte Pitt: »Und was ist damit?«
»Lassen Sie es stehen. Das macht Lea schon. Sie tut so was gern. Sie wird ärgerlich, wenn sie mich in der Küche sieht.«
»Waren Sie denn schon mal da drin?«, fragte Pitt zweifelnd.
Isaak lachte. »Nein …« Er lächelte schief. »Aber ich bin sicher, dass sie ärgerlich wäre!« Er deutete auf einen Stapel Weißzeug, der auf einem kleinen Tischchen lag. »Das sind Ihre frischen Hemden. Sie arbeitet gut, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte Pitt zu, während er an die Knöpfe dachte, die sie angenäht hatte, und an ihr scheues zufriedenes Lächeln, als er ihr gedankt hatte. »Wirklich sehr gut. Sie können sich glücklich schätzen.«
Isaak nickte. »Das ist mir bewusst, mein Freund. Das ist mir bewusst. Jetzt erzählen Sie mir aber über diesen Ort auf dem Lande. Beschreiben Sie ihn mir! Wie schmeckt die Luft am frühen Morgen? Wie riecht sie? Sagen Sie mir alles über die Vögel, die Luft, über alles! Damit ich träumen und mir vorstellen kann, dort zu sein.«
Früh am nächsten Morgen hörte Pitt auf dem Weg zur Werkstatt des Seidenwebers Schritte hinter sich. Als er sich umwandte, sah er Tellman weniger als zwei Meter von sich entfernt. Angstvoll krampfte sich sein Magen bei der Vorstellung zusammen, Charlotte oder den Kindern könne etwas zugestoßen sein. Dann aber sah er Tellmans Gesicht. Es wirkte müde, verkündete jedoch kein Unheil.
»Was gibt es?«, fragte er fast im Flüsterton. »Was tun Sie hier?«
Tellman fiel neben ihm in gleichen Schritt und sagte, ebenfalls sehr leise: »Ich bin hinter Lyndon Remus her.« Pitt zuckte zusammen, als er den Namen hörte, doch merkte Tellman nichts davon. »Er ist in etwas verwickelt, was mit Adinett zu tun hat«, fuhr er fort. »Ich weiß noch nicht, was es ist, aber die
Sache lässt mich nicht los. Adinett war in dieser Gegend hier, ein Stückchen weiter im Osten. Genau gesagt, in der Cleveland Street.«
»Was wollte er da?« Pitt blieb unvermittelt stehen.
»Man könnte glauben, dass Remus hinter einer Geschichte her war, die da vor fünf oder sechs Jahren passiert ist«, gab Tellman zur Antwort. »Man hat eine junge Frau aus einem Tabakladen entführt, ins Guy’s Hospital gebracht und da festgestellt, dass sie verrückt war. Es sieht ganz so aus, als wäre er damit stracks zu Thorold Dismore gegangen.«
»Dem Zeitungsmenschen?«, fragte Pitt, während er weiter ausschritt. Er wich einem Haufen Unrat aus und sprang gerade rechtzeitig auf den Gehweg zurück, um nicht von einem schwankenden Fuhrwerk voller Fässer angefahren zu werden.
»Ja«, bestätigte Tellman, als er ihn eingeholt hatte. »Aber seine Anweisungen bekommt er von jemandem, mit dem er sich im Regent’s Park getroffen hat. Es ist ein Herr, der sich ganz ausgesucht kleidet. Da muss viel Geld dahinter stecken.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wer das sein könnte?«
»Nein.«
Während er eine Weile schwieg, wirbelten Pitt die Gedanken wild durch den Kopf. Er hatte beschlossen, nicht weiter über den Fall Adinett nachzudenken, doch hatte er ihn natürlich nicht losgelassen, und immer wieder hatte er sich bemüht, einen Sinn in dem Verbrechen zu sehen, das nicht zum Wesen des Täters zu passen schien. Er wollte verstehen, vor allem aber wollte er beweisen, dass er Recht gehabt hatte.
»Waren Sie in der Keppel Street?«, fragte er.
»Natürlich«, gab Tellman zur Antwort, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. »Es geht allen gut, doch Sie fehlen ihnen.« Er sah beiseite. »Gracie hat etwas über diese junge Frau aus der Cleveland Street in Erfahrung gebracht. Sie war katholisch und hatte einen Liebhaber, der wie ein Herr aussah. Auch der ist verschwunden.«
Pitt spürte die Schwingungen von Stolz und Befangenheit in Tellmans Stimme. Bei einer anderen Gelegenheit hätte er darüber gelächelt.
»Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich weitergekommen bin«,
fuhr Tellman fort, geradeaus vor sich hinblickend. »Ich muss jetzt zurück. Wir haben einen neuen Leiter der Wache in der Bow Street … er heißt Wetron.« In seiner Stimme bebte Abscheu. »Ich weiß nicht, was das alles soll,
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