Die Verschwoerung von Whitechapel
berichtete Isaak mit trockenem Humor und voll Selbstironie, oft aber waren die Geschichten, die er zu erzählen hatte, unvorstellbar traurig.
Offensichtlich wollte er auch heute Abend mit Pitt reden, aber nicht wie sonst unverbindlich über dies und jenes.
»Lea ist nicht da«, sagte er und sah Pitt mit seinen dunklen Augen aufmerksam an. »Sarah Levin ist krank, und sie ist zu ihr gegangen. Sie hat uns etwas zu essen hingestellt, aber es ist kalt.«
Pitt lächelte ihm zu und ging mit ihm in die kleine Küche, wo der Tisch bereits gedeckt war. Sein blank gescheuertes Holz, die einzigartigen Düfte in dem Raum, waren ihm bereits ebenso vertraut wie Leas Stickerei auf dem Leinenzeug, Isaaks Bild als junger Mann oder das Streichholzmodell einer polnischen Synagoge, das unter der Last der Jahre ein wenig eingeknickt war.
Kaum hatten sie sich gesetzt, begann Isaak schon zu sprechen. »Ich bin froh, dass Sie für Saul arbeiten«, sagte er, während er für Pitt und sich Brot abschnitt. »Sie sollten sich nachts nicht in der Zuckerfabrik aufhalten. Das ist kein guter Ort.«
Pitt kannte Isaak inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das lediglich die Einleitung war. Die entscheidenden Dinge würden noch folgen.
»Saul ist ein guter Mensch.« Pitt nahm das Brot. »Danke.« Dann fuhr er fort: »Ich sehe mich gern in der Nachbarschaft um, doch in der Fabrik bekomme ich eine völlig andere Seite der Dinge zu Gesicht.«
Eine Weile aß Isaak schweigend.
»Es wird Ärger geben«, sagte er mit einem Mal, den Blick auf seinen Teller gerichtet. »Großen Ärger.«
»In der Zuckerfabrik?« Pitt musste an das denken, was er in den Bierlokalen gehört hatte.
Isaak nickte. Mit einem Mal sah er Pitt offen an. »Es ist etwas Schreckliches, Pitt. Ich weiß nicht, was, aber ich habe Angst. Gut möglich, dass man uns die Schuld daran gibt.«
Pitt brauchte nicht zu fragen, wen Isaak mit ›uns‹ meinte – die jüdischen Einwanderer, die leicht erkennbar waren und sich nur allzu gut als Sündenböcke eigneten. Von Narraway hatte er bereits erfahren, dass der Sicherheitsdienst sie verdächtigte, doch bildeten sie seiner Beobachtung nach im Londoner Osten eher ein stabilisierendes Element. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, führten Läden und kleine Handwerksbetriebe und gaben damit anderen Menschen Arbeit. Das hatte er auch Narraway gesagt, nichts aber über ihre Geldsammlung für in Schwierigkeiten geratene Glaubensbrüder. Er sah es als Ehrensache an, dass er das für sich behielt.
»Niemand redet offen darüber,« fuhr Isaak fort, »es wird
immer nur gemunkelt. Aber gerade deshalb bin ich überzeugt, dass es ernst gemeint ist.« Er sah Pitt aufmerksam an. Auf seinen Zügen lag Angst. »Irgendetwas braut sich zusammen. Ich weiß nicht, was es ist, aber es sind nicht die verrückten Anarchisten wie sonst. Die kennen wir, und auch die Leute aus der Zuckerfabrik kennen sie.«
»Katholiken?«, fragte Pitt zweifelnd.
Isaak schüttelte den Kopf. »Nein, sie kochen zwar auch vor Wut, wollen aber ganz wie wir ein Zuhause, Arbeit, weiterkommen und ein besseres Leben für ihre Kinder. Was würde es ihnen nützen, wenn sie die Zuckerfabrik in die Luft jagten?«
»Ach, geht es um Dynamit?«, fragte Pitt, dem plötzlich ein Schauer über den Rücken lief, während er sich vorstellte, wie eine Flammenwand halb Spitalfields einschloss. Wenn in allen drei Zuckersiedereien Sprengladungen hochgingen, würden ganze Straßenzüge brennen.
»Ich weiß nicht, was es ist oder wann es sein wird«, gab Isaak zu, »aber bestimmt wird etwas geplant, und zwar genau dann, wenn es zu einem wichtigen Geschehen kommt, das mit Spitalfields zu tun hat. Die beiden Ereignisse sollen aufeinander aufbauen.«
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer dahinter stecken könnte?«, erkundigte sich Pitt. »Weiß man irgendwelche Namen?«
Isaak schüttelte den Kopf. »Nur einen, und bei ihm bin ich nicht sicher, in welchem Zusammenhang er steht.«
»Wie heißt der Mann?«
»Remus.«
»Remus?«, fragte Pitt verblüfft. Der einzige Remus, den er kannte, war ein Journalist, dessen Spezialität Skandale und Spekulationen waren. Unter der Einwohnerschaft Spitalfields’ konnte es keine Skandale geben, die einen solchen Mann interessierten. Vielleicht hatte Pitt ihn falsch eingeschätzt, und er hatte doch mit Politik zu tun. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank dafür.«
»Es ist nicht viel«, tat Isaak seinen Dank mit einer Handbewegung ab. »England war
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