Die verschwundene Frau
Bett hoch, und ich schluckte etwas Süßes.
Dann krächzte ich wieder.
»Sie sind im Grete-Berman-Institut und erholen sich von Ihren Verletzungen.«
Ich wusste, dass ich schon einmal etwas vom Grete-Berman-Institut gehört hatte, aber ich erinnerte mich nicht mehr, was das war. Über dieser Frage schlief ich wieder ein. Jedesmal, wenn ich aufwachte, trank ich ein bisschen und blieb ein wenig länger wach. Manchmal war der Mann da, der mich »Schätzchen« nannte, und irgendwann fiel mir wieder ein, dass er Mr. Contreras hieß. Ich versuchte zu lächeln und etwas zu sagen, damit er wusste, dass ich ihn erkannt hatte und mich über seine Anwesenheit freute; ich brachte lediglich »Peppy« heraus, was ihn zum Weinen brachte.
Als ich ein andermal aufwachte, reichte mir die Frau im gelben Pullover die Uhr meines Vaters und half mir, sie an meinem Handgelenk zu befestigen. Ich war erleichtert, sie wiederzuhaben, war aber immer noch durcheinander, als fehle mir etwas sehr Wichtiges. Die Frau im gelben Pullover drängte mich, Miso-Suppe zu essen. Ich wurde allmählich kräftiger - noch ein paar Tage, dann wäre ich in der Lage, Reis zu essen, und dann würde mir auch wieder einfallen, was mich so durcheinanderbrachte.
Ich war zu müde zum Denken. Irgendwann hörte ich auf, über die Uhr nachzugrübeln, und wechselte zwischen Dösen, Essen und dem Versuch, mich aufzurichten: Die Verletzung in meinem Unterleib machte das Sitzen zu einer äußerst schmerzhaften Angelegenheit. Es waren erst drei Tage vergangen, seit ich das erste Mal aufgewacht war, aber der Schmerz und die Schmerzmittel verzerrten mein Zeitempfinden auf merkwürdige Weise.
An dem Tag, an dem Mr. Contreras mir auf einen Stuhl half, so dass ich meinen Reis essen und mir das Spiel der Cubs im Fernsehen anschauen konnte, kam Lotty herein. Sammy Sosa hatte soeben seinen sechsundvierzigsten Homerun geschafft, und Mr. Contreras stellte den Fernseher leiser und ließ uns in einer seltenen Anwandlung von Taktgefühl allein.
Als Lotty sah, dass ich nicht mehr im Bett lag, sondern auf einem Stuhl saß, brach sie in Tränen aus, kniete neben mir nieder und legte die Arme um mich. »Victoria. Ich dachte schon, ich verliere dich. Ich bin ja so dankbar, dich wieder zurückzuhaben.«
Jetzt, wo sie mir so nahe war, sah ich, dass sie schon ziemlich viele graue Haare hatte; aus einem Grund, den ich nicht ganz verstand, brachte mich das auch zum Weinen. »Ich dachte, du blaffst mich an.«
Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Später. Wenn du wieder stark genug bist, um dich zu wehren.«
»Sie darf sich nicht aufregen, Dr. Herschel«, sagte die Krankenschwester.
Lotty erhob sich. Trotz ihrer grauen Haare bewegte sie sich noch erstaunlich behende. Ich lächelte sie ein wenig dümmlich an. Sie blieb nicht lang, kam aber am nächsten Abend zusammen mit Morrell wieder. Die beiden erzählten mir gemeinsam, was passiert war.
Ein Beamter der Landespolizei hatte mich gegen drei Uhr morgens am Sonntag auf der Belmont-Ausfahrt zum Kennedy-Expressway gefunden. Die Kartons, die beim Anfahren aus dem Lieferwagen von Polsen gefallen waren, hatten mir das Leben gerettet: Ein Autofahrer, der ihnen ausgewichen war, hatte mich auf der Straße liegen sehen und die Polizei gerufen. Die Beamten von der Landespolizei hatten mich ins Beth Israel Hospital gebracht, wo Dr. Szymczyk - derselbe Arzt, der in der Nacht, in der ich Nicola Aguinaldo gefunden hatte, Dienst gehabt hatte - mich wieder zusammenflickte.
Ich hatte in mehrfacher Hinsicht mehr Glück gehabt als Nicola. Als Hartigan mir einen Tritt versetzte, war es mir gelungen, mich so weit zur Seite zu drehen, dass meine Rippen die Hauptwucht auffingen. Er hatte meinen Darm trotzdem getroffen, und ich litt jetzt unter einer schweren Entzündung, was mein Fieber erklärte; als der Beamte mich gefunden hatte, war die Perforation meines Darms allerdings noch im Anfangsstadium gewesen. Nicola hingegen hatte bereits eine so fortgeschrittene Bauchfellentzündung gehabt, dass sie, als ich sie entdeckte, praktisch keine Chance mehr gehabt hatte.
Außerdem befand ich mich, anders als Nicola, in guter körperlicher Verfassung und war es gewöhnt, mich zu verteidigen, so dass es mir trotz des Elektroschockers, den Hartigan auf mich gerichtet hatte, gelungen war, mich vor den allerschlimmsten Tritten und Schlägen zu schützen. Offenbar hatte ich es sogar geschafft, die Hände vor den Kopf zu halten, so dass der Tritt zwar die Finger meiner rechten
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