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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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sei ich aus Versehen im falschen Raum gelandet. Doch vor der Tür stand Wenzel. Er packte mich an den Armen. Ich schlang einen Fuß um seinen Knöchel und zog ihm die Beine unter dem Leib weg. Er fiel nach hinten, ohne mich loszulassen, doch immerhin lockerte sich sein Griff ein wenig, so dass ich mich befreien, wegrollen und in die Hocke gehen konnte.
    Nun zückte Hartigan eine Waffe. Ich wich aus, aber plötzlich verlor ich die Kontrolle über meine Gliedmaßen. Ich wurde durch die Luft geschleudert wie eine Kanonenkugel und landete mit dem Kopf zuerst in einem Stapel Jacken. Ich bekam keine Luft. Ich konnte mich nicht bewegen. Die Haut auf meiner Brust brannte. Meine Beine waren nass, und ich roch Urin und verbrannten Stoff. Meine Arme und Beine zuckten.
    Hartigan stand über mir, ein sadistisches Lächeln auf den Lippen, und hob einen schweren Stiefel. Es gelang mir, mich ein wenig zur Seite zu drehen, bevor er zutrat. Sein Stiefel landete mit Wucht in meinen Rippen und dann auf meinem Kopf.
    Als ich aufwachte, befand ich mich in einem dunklen Zimmer. In meinem Kopf dröhnte es. Ich versuchte, die Hand zu heben und meinen Kopf zu berühren, aber ich konnte die Arme nicht bewegen. Meine Rippen schmerzten, und mir wurde flau im Magen. Ich verlor das Bewusstsein.
    Dann spürte ich irgendwann eine Hand auf meinem Arm, und jemand sagte: »Lebt sie noch?« Ich hätte gern meinen Arm weggezogen, konnte ihn jedoch immer noch nicht bewegen. Ja, ich sei am Leben, bestätigte eine zweite Stimme, aber ich würde nirgendwohin verschwinden, also konnten sie mir die Fesseln abnehmen.
    »Pass auf, Hartigan, vielleicht verstellt sie sich bloß«, sagte die erste Stimme, die, das merkte ich jetzt, Polsen gehörte. »Wenzel hat von dem Schlag, den sie ihm versetzt hat, eine Gehirnerschütterung. Lass die Fesseln lieber dran, dann bist du wenigstens sicher.«
    Ich habe ihn nicht geschlagen, er ist gestürzt, wollte ich sagen. Aber der Kiefer tat mir weh, und ich konnte nicht sprechen. Später brachte mir jemand Wasser. Dafür war ich so dankbar, dass ich weinen musste.
    Mein Cousin Boom-Boom hat gewettet, dass ich den Kran nicht hochklettern kann, versuchte ich meiner Mutter zu sagen. Und warum hast du's getan? fragte sie mich auf italienisch. Musst du diesem verrückten Jungen denn alles nachmachen? Was willst du damit beweisen? Dass du eine Katze bist und neun Lehen hast? Daraufhin sagte mein Vater ihr, sie solle mich in Ruhe lassen, denn ich habe eine Gehirnerschütterung und zwei gebrochene Rippen, und das sei Strafe genug. Und meine Strafe? rief meine Mutter auf englisch. Wenn ich sie bei einem dieser verrückten Abenteuer verliere, über die du und dein Bruder bloß lachen, überlebe ich das nicht.
    Wahrscheinlich, so dachte ich, konnte ich jetzt die Augen aufmachen, denn mein Vater würde mich anlächeln, aber als ich sie aufschlug, war ich in einer Zelle - nicht in der, die ich mir mit Solina teilte, sondern in einer mit nur einem einzigen Bett. Ich hörte ein Schnappen. Das Hämmern in meinem Kopf war mittlerweile zu einem dumpfen Pochen geworden, und es gelang mir, den Kopf ein wenig zu drehen. Ich sah die Tür mit einem kleinen Fenster, durch das mich ein Auge anstarrte. Dann hörte ich ein zweites Schnappen, als das Türchen vor dem Fenster vorgeschoben wurde.
    Ich döste immer wieder ein und träumte von Zeiten, in denen ich acht oder neun oder zehn gewesen war, als meine Mutter mich Tonleitern hatte üben lassen, bis mir die Arme so weh taten, dass ich sie anbettelte, aufhören zu dürfen; oder zusammen mit Boom-Boom beim Picknick am Unabhängigkeitstag, als ich vom Feuerwerk Kopfschmerzen und tränende Augen bekommen hatte. Und das Feuerwerk stank wie eine ungeputzte Toilette.
    Das Schnappen des Fensterchens weckte mich in unregelmäßigen Zeitabständen auf. Jetzt konnte ich meine Arme wieder bewegen, aber der Schmerz in meinen Rippen und meinem Bauch war so groß, dass ich das lieber nicht zu oft tat. Ich war abwechselnd schweißgebadet und eiskalt. Ich zitterte so sehr, dass ich das Gefühl hatte, meine Knochen klapperten. Als ich mich aufsetzen wollte, um meine Füße anzusehen, durchzuckte mich ein spitzer Schmerz im Bauch. Ich schrie auf und sank wieder aufs Bett. Als das Fensterchen sich wieder einmal öffnete, wurde mir klar, dass meine Beine gefesselt waren. Aber das war egal, mir tat ohnehin alles viel zu weh, als dass ich irgendwo hätte hingehen wollen. Ich machte die Augen zu.
    Irgendwann fragte jemand

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