Die verschwundene Frau
Telefonnischen gebracht, wo Miss Ruby und andere Insassinnen die Hotelreservierungen von amerikanischen Familien für die Sommerferien annahmen. Wir anderen wurden zur Näherei eskortiert. Wir mussten uns ein weiteres Mal zählen lassen, diesmal von Wenzel und Hartigan, und wurden dann zu unseren Maschinen geschickt.
Bevor ich mich an den Stapel mit den Kleidungsstücken machen konnte, die ich am Vortag nicht geschafft hatte, packte Hartigan mich am Arm. »Du!« fauchte er mich auf englisch an. Einen entsetzlichen Augenblick lang dachte ich, Baladine habe mich bereits aufgespürt und Anweisung gegeben, mich weiter zu quälen.
Doch offenbar war es nur mein mangelndes Können als Näherin, das Hartigan dazu veranlasst hatte, mich am Arm zu packen. In einer ziemlich anschaulichen Mischung aus Spanisch und Englisch erklärte er mir, dass ich von nun an bei den Zuschneidern eingesetzt sei. Dort würde ich einen Dollar dreißig pro Stunde erhalten, hatte ich das verstanden?
»Comprendo«, sagte ich mit zusammengepressten Lippen.
Die folgenden drei Stunden stand ich, unterbrochen durch eine zehnminütige Pause, im Zuschneideraum, pinnte Schablonen an dicke Baumwollstapel und hielt diese Stapel dann unter die Zuschneidescheren. Das war harte Arbeit, die noch härter wurde, weil Hartigan immer wieder brüllte: »Vamos, mäs räpido!«
Ich ging wie in der schlaflosen Nacht zuvor immer wieder durch, was ich vorhatte. Die Gelegenheit ergab sich dann in der Mittagspause. Wir durften die Schablonen weglegen und die Zuschneidescheren gerade in dem Augenblick ausschalten, in dem die kambodschanische Frau die Produktion der vergangenen Stunde auf den Wagen lud. Während alle anderen geschlossen zum Mittagessen gingen, folgte ich dem Wagen in die andere Richtung. Die Frauen plapperten und streckten sich, um ihre Verspannungen loszuwerden, und Wenzel und Hartigan merkten nicht, dass ich den falschen Weg einschlug.
Die kambodschanische Frau drückte auf einen Knopf in der Tür, die sich daraufhin öffnete. Ich folgte ihr hinein. In dem Durcheinander aus Licht und Geräuschen, das mich darin empfing, konnte ich anfangs nicht viel erkennen: riesige Maschinen, Frauen in Gefängniskleidung, das Rattern von Fließbändern. Hier war eine richtige Fabrik. Ich ging zu dem Fließband mit den T-Shirts hinüber.
Lacey Dowells Gesicht starrte mich an. Ihre roten Haare umrahmten unschuldig ihren Kopf, und ihre Lippen waren leicht zu einem verschmitzten Lächeln geöffnet. Dieses Lächeln wiederholte sich ungefähr ein halbes dutzendmal, als das T-Shirt auf dem Fließband vor mir vorbeitransportiert wurde. Die heißen Lampen über mir brachten mich ins Schwitzen; sie dienten dazu, die feuchte Tinte auf den Shirts zu trocknen - zwei Frauen druckten an einer riesigen Maschine zu meiner Rechten Bilder auf die Hemden, die die Frau aus Kambodscha gerade von dem Wagen lud. An einem zweiten Fließband mir gegenüber brachten zwei andere ein Space-Berets-Motiv auf Jeansjacken auf.
Am anderen Ende des Fließbandes holten Frauen die Kleidungsstücke herunter, legten sie zusammen und reichten sie einer Kollegin, die sie mit einem Industriebügeleisen glättete. Dann wurden die gebügelten Sachen in Kartons gepackt. Ich sah fasziniert zu, bis mich ein Ruf von hinten erstarren ließ. Sofort begann ich, mit meiner Armbandkamera so schnell ich konnte Bilder zu machen, von Laceys Gesicht auf den T-Shirts, von den Fließbändern, von den Frauen, die die Motive auf Hemden und Jacken druckten.
Ein Mann packte mich am Arm und brüllte: »Was zum Teufel machst du hier drin? Wo kommst du her?«
Ich riss mich los und versuchte, von den Maschinen, von den Arbeiterinnen, von allem, was ich einigermaßen klar vor die Linse bekam, Fotos zu machen. Der Mann, der mich angebrüllt hatte, lief mir nach. Ich duckte mich unter einem Fließband durch und schlitterte auf Händen und Knien zum Eingang. Die Frauen, die die T-Shirts an die Büglerinnen reichten, hörten auf zu arbeiten und drängten sich gegen eine Wand. Kleidungsstücke begannen sich am Ende des Fließbands zu stapeln und schließlich zu Boden zu fallen.
Mein Verfolger stolperte über die T-Shirts und rief Hilfe herbei. Aufseher Hartigan kam sofort durch die Tür. Jacken und Hemden verhedderten sich in den Maschinen. Sirenen heulten, und die Maschinen kamen zum Stillstand.
Ich duckte mich unter Hartigans ausgestrecktem Arm hindurch und drückte die Tür in der albernen Hoffnung auf, ich könnte so tun, als
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