Die verschwundene Frau
Hand gebrochen, aber an meinem Kopf keinen allzu großen Schaden angerichtet hatte.
»Du hast Glück gehabt, Vic«, sagte Lotty. »Aber du bist einfach auch nicht der klassische Opfertyp.«
»Und wieso bin ich jetzt hier und nicht im Krankenhaus? Das Grete-Berman-Institut ist doch für Folteropfer, oder? Ich bin aber kein Folteropfer.«
»Ich war der Meinung, dass man dich noch nicht aus dem Beth Israel verlegen sollte, doch Morrell hat mich davon überzeugt, dass dieser Baladine dich in einem Krankenhaus ohne weiteres finden konnte. Ich hätte dich gern mit zu mir nach Hause genommen, aber das Berman-Institut ist sicher und gut mit Pflegepersonal ausgestattet, also habe ich zugestimmt, dich sofort nach der Operation hierherzubringen. Und abgesehen davon...« Sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben, »...warst du völlig hilflos, mit einem Elektroschocker traktiert, bewusstlos geschlagen und an ein Bett gefesselt. Ich würde das durchaus Folter nennen, Victoria.«
»Sie muss sich jetzt ein bisschen ausruhen, Dr. Herschel«, meldete sich die Krankenschwester zu Wort.
Im Lauf der folgenden Tage, als ich allmählich wieder auf die Beine kam und im Garten des Berman-Instituts herumzugehen begann, erzählte Morrell mir den Rest der Geschichte. Er hatte Freeman Carter nach seiner Rückkehr aus Coolis am Donnerstag angerufen und ihn gedrängt, die Sache mit der Kaution noch am Freitag zu regeln, weil er Angst hatte, dass Baladine Anweisung geben könnte, mich am Wochenende aus der Welt zu schaffen. Freeman war anfangs ein wenig skeptisch gewesen, hatte sich dann aber überzeugen lassen.
Freeman hatte sich den ganzen Freitag für mich eingesetzt und es schließlich geschafft, die Angelegenheit mit der Kaution noch am selben Tag zu regeln.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits mit steigendem Fieber an ein Bett im Einzelhafttrakt gekettet gelegen, ohne dass das irgend jemand außerhalb des Gefängnisses gewusst hätte. Freeman hatte niemanden in Coolis dazu bringen können, ihm zu sagen, wo ich mich aufhielt. Schließlich hatte man ihm mitgeteilt, man habe nicht genug Verwaltungspersonal, um mich am Freitag nach fünf Uhr nachmittags zu entlassen, und Freeman müsse am Montag noch einmal wiederkommen.
Daraufhin hatte Freeman eine gerichtliche Verfügung zu meiner sofortigen Freilassung erwirkt. Die Verantwortlichen im Gefängnis hatten ihm erklärt, ich habe einen Arbeitsunfall vorgetäuscht und sei im Krankenhaus eingeliefert worden. Am Samstag schließlich hatten sie Freeman ständig zwischen Gefängnis und Krankenhaus hin und her geschickt, während mein Fieber immer weiter gestiegen war.
Natürlich hatten Freeman und Morrell keine Ahnung, wie die Dinge innerhalb des Gefängnisses liefen, aber vermutlich bekamen die Leute dort irgendwann einfach Panik. Vielleicht glaubten sie, dass ich sterben würde, und Freeman machte ihnen klar, dass sie mit ausgesprochen gründlichen Nachforschungen zu rechnen hatten, wenn sie mich nicht in gutem Zustand auslieferten. Wahrscheinlich waren sie irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass das, was sie mit Nicola gemacht hatten, noch einmal funktionieren könnte, und den Zeitungen mitgeteilt, dass mir die Flucht gelungen war. Morrell zeigte mir den Artikel darüber im Herald-Star.
DER ENTFÜHRUNG VERDÄCHTIGTE
PRIVATDETEKTIVIN AUS COOLIS GEFLOHEN
Schon zum zweitenmal in diesem Sommer ist es einer Frau gelungen, aus dem von Carnifice geleiteten kombinierten Untersuchungsgefängnis- und Gefängniskomplex in Coolis auszubrechen. Doch diesmal schlägt der Vorfall höhere Wellen, weil es sich bei der Frau um die bekannte Chicagoer Privatdetektivin V. (Victoria) I. (Iphigenia) Warshawski handelt. Sie war verhaftet worden, weil sie angeblich den Sohn von Carnifice-Chef Robert Baladine entführt hatte, und verbrachte einen Monat im Untersuchungsgefängnistrakt von Coolis, nachdem sie es versäumt hatte, die festgesetzte Kaution hinterlegen zu lassen.
Sie sei keine einfache Gefangene gewesen, teilte Frederick Ruzich, der Direktor des Gefängnisses, mit, und oft in handgreifliche Auseinandersetzungen mit anderen Inhaftierten verwickelt gewesen. Zudem habe sie sich wiederholt über die Anweisungen des Wachpersonals hinweggesetzt, das für die Integration der Neuankömmlinge in Coolis verantwortlich ist.
Wie Warshawski die Flucht gelang, werden wir wohl nie erfahren. Sie wurde lebensgefährlich verletzt am unteren Ende der Belmont-Ausfahrt zum Kennedy-Expressway aufgefunden. Sie ist am Leben, hat
Weitere Kostenlose Bücher