Die Versteckte Stadt: Thriller
dem Sand zu schützen. Kam der Zug näher, begann der ganze Raum zu zittern, sie konnten das Kreischen der Stahlräder hören, die über die Schienen schabten, das Rumpeln, mit dem sich die Achsen über die verbogenen Gleise schoben. Rauschte der Zug endlich an ihnen vorbei, war jedes einzelne Rad, das in die Lücke zwischen zwei Gleisen einschlug und wieder herausgerissen wurde, eine kleine Erschütterung. Die Wände schienen sich zu biegen, der Lärm den Raum ganz zu auszufüllen.
Wenn das geschah, drängte sich Laila an ihren Papa, bis er einen Arm herunternahm und um ihre Schulter legte, sie an sich zog, wie um sie vor dem Rattern und Rauschen und Rasen zu schützen, das so dicht an ihnen vorbeikeuchte. Erst wenn der letzte Wagen an ihrem Raum vorbei war, ließ er sie wieder los. Aber Laila blieb meist noch ein paar Minuten an ihn gepresst liegen, als wollte sie sicher gehen, in seiner Nähe zu sein, falls das stählerne Untier noch einmal zurückkommen sollte.
Dabei waren sie in ihrem Raum eigentlich sehr gut geschützt. Denn es gab weder Türen noch Fenster. Keinen Luftschacht, keine Luke, keine Klappe. Alle Öffnungen waren von Lailas Vater vernagelt worden, als sie sich in den Raum gerettet hatten. Vor die Tür, durch die sie hineingeschlüpft waren, hatte er die Bretter genagelt, die er mitgebracht hatte. Und vor den Fenstern hatte er die Stahlläden so fest verschraubt, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen.
„Ich hab Hunger, Papa“ - das war es gewesen, was alles in Gang gesetzt hatte, am zweiten Tag nach ihrer Flucht in den Raum. Den ersten Tag lang hatte sich Laila geschworen, dass sie ihren Vater damit nicht behelligen würde - am zweiten aber hatte sie es nicht länger ausgehalten. Anfangs war es ein Beißen gewesen, als hätte ihr Magen begonnen, sich selbst zu verspeisen. Dann war es stumpfer geworden, aber der Schmerz und die Entbehrung hatten sich in ihrem Körper ausgebreitet wie ein Fieber. Sie hatte gespürt, dass sie schon kaum mehr die Kraft hatte, den Mund zu öffnen.
„Ich hab Hunger“ - sie hatte ganz leise gesprochen, fast als wollte sie nicht, dass er sie hörte. Und doch war sie sicher, dass er sie gehört hatte - auch wenn er zuerst nicht geantwortet hatte.
Veit hatte gewusst, dass es bald soweit sein musste. Niemals hätte er geglaubt, dass Laila es so lange aushalten würde. Als er hörte, wie sie leise vor sich hinsummte, wie sie flüsterte, dass sie Hunger hätte, wusste er, dass der Moment gekommen war, an dem alles Bisherige zu einem Abenteuer wurde - und das, was kam, der wahre Schrecken sein würde.
Denn es gab nichts zu essen. Es gab keine Vorräte in dem Raum, es gab nur die Balken, die Stahlläden, den Sand. Die Tür, die er vernagelt hatte, die Anziehsachen an ihren Körpern. Es war heiß in dem Raum und wenn die Züge daran vorbeifuhren, schien die Luft - mit dem Staub, der aus den Ritzen rieselte, dem Kreischen der Räder, der Hitze, die noch von außen gegen die Wände geblasen wurde - wie zum Schneiden zu sein. Aber zu essen gab es nichts. Und sie konnten den Raum nicht verlassen. Das wusste Veit. Sie hatten Glück gehabt, dass sie es bis hierher geschafft hatten. Draußen aber warteten sie. Tausende, Hunderttausende. Und sie würden keine Sekunde zögern, sie anzufallen.
Veit fühlte, wie Laila, die sich an ihn gelehnt hatte, ein wenig zusammenrutschte. Er schaute auf das kleine Gesicht seiner Tochter. Auf die feinen Züge, die durchscheinende Haut, die Lider, die sich über ihre Äuglein geschoben hatten. Sie war eingeschlafen. Vorsichtig hob er sie von sich herunter und legte sie auf den Boden. Dann robbte er zur anderen Ecke der Kammer und richtete sich auf.
‚Ich hab Hunger, Papa.‘
Es gab nur einen Weg.
Er griff nach dem Shirt, das er trug und zog es aus dem Bund seiner Hose. Darunter steckte die Klinge in dem ledernen Schaft. Er zog sie hervor. Das Messer glänzte in dem noch immer vom Staub erfüllten Raum. Er legte den Stahl auf seinen Unterarm. Die Klinge kühlte das Glühen auf seiner Haut.
Dann zog Veit das Taschentuch, das er noch immer besaß, aus der Hose, verdrehte es zu einem Strang und stopfte ihn sich zwischen die Zähne. Es kamen nur entweder die Arme oder die Beine in Frage.
Als das Messer in den Unterarm eindrang, wurde ihm schwarz vor Augen. Das Blut schoss aus dem Schnitt hervor, lief in einem gewaltigen Schwall über seine Hand. Er hörte die Luft in seiner Kehle blubbern, sank gegen die Balken an der Wand und stemmte
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