Die Verstummten: Thriller (German Edition)
sich um, aber da war keiner. Die Straße leuchtete wasserblau-menschenleer, als wären alle schnell ins Haus gelaufen.
Saras Schmetterling zappelte. Sie strich darüber, flüsterte ihm zu, dass er keine Angst zu haben brauchte, und schob ihren Roller über die Gehsteigkante. Da rutschte ihre Tasche vom Lenker, Zeugnis, Stifte und Block flogen auf die Straße. Sie legte den Roller hin, lief der grünen Eins in Kunst hinterher, sammelte alles ein und stopfte es wieder in die Tasche zurück. Eine Eins im Zeugnis bedeutete umsonst Dampferfahren am Starnberger See. Vielleicht gleich zu Ferienbeginn, hatte Oma gesagt.
Plötzlich wuchs ihr Schatten, von ganz allein. Komisch, dachte sie noch, wollte sich aufrichten, um zu sehen, was mit der Sonne los war, ob das Gewitter aus München ihr bis hierher nachgeflogen war. Eine Sekunde vielleicht oder weniger dauerte das, so lange, wie eine Fliege braucht, um abzuheben und dem Schlag zu entkommen. Dann packten Hände sie, warfen ihr Zwiebelhäute über. Ihr Vater fing sie manchmal in seiner Jacke ein, nur zum Spaß, aber er ließ sie immer gleich wieder los. Diese Schatten drehten sie noch fester ein, wie das allerletzte Stück Klebeband, das bremst und nicht mehr vorwärts noch rückwärts kann. Etwas presste sich auf ihr Gesicht. Da brach sie in Tränen aus, sie konnte einfach nicht anders. Sie zerfloss in ihrem Tränenmeer, und es schmeckte nach Blut.
Freitag
Fünf Stunden nach dem Ursprung
Was hast du für große Hände!
Dass ich dich besser packen kann.
Rotkäppchen, Brüder Grimm
4.
Weil die Murnauer Unfallklinik mit mehreren Notfällen belegt war, flog der Hubschrauber den schwer verletzten Geisterfahrer nach einigem Hin und Her ins Klinikum Harlaching.
»Jakob Loos hat seinen siebzehnjährigen Sohn Enrico auf das Auto mitversichert«, sagte Matte zu Carina und schob das Handy ein. »Ich habe im Präsidium nachgefragt. Vermutlich hat dieser Enrico noch nicht mal den Führerschein.«
Da ihr Vater bestimmt noch einige Zeit an der Unfallstelle zu tun haben würde, fragte sie jemanden von der Verkehrspolizei, ob sie mit zurück in die Innenstadt fahren konnte. Wenigstens sie als Tante wollte es, wenn auch knapp, zu Sandros Abschiedsfeier schaffen.
Matte hielt sie zurück. »Warte, Peter Schuster übernimmt den Rest hier. Du kannst mit mir fahren.«
Carina sah, wie der Sprachforscher die Absperrbänder aufwickelte. Anscheinend traute ihm ihr Vater inzwischen mehr zu als noch vor ein paar Monaten.
Sie stieg auf der Beifahrerseite ein. »Hast du Mam…« Sie stockte, legte sich den Gurt an. »Ich meine, weiß Silvia Bescheid, dass wir sie erst jetzt abholen?«
Er warf den Walkingstock wie einen Schirm auf den Rücksitz, drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Eigentlich war ihr Vater heute nur als Beifahrer vorgesehen gewesen. »Sie ist bereits im Zug.« Mit einer Handbewegung verabschiedete er sich von den Kollegen, rollte an den Rettungswagen vorbei und gab Gas. Scheinbar keine Spur von Schmerzen oder einem Zwicken mehr in seiner Hüfte. Aber sie wusste es besser. In ihr keimte der Verdacht, dass er es schlicht nicht ertrug, wenn sie seinen Wagen lenkte.
Mit Warnblinklicht reihten sie sich zwischen die anderen Autos ein, fuhren bis zur nächsten Ausfahrt bei Starnberg und wendeten über die alte Bundesstraße nach München zurück.
»Ich frag mich, wo der Junge auf die falsche Spur aufgefahren ist. Hoffentlich gibt es Zeugen oder Aufnahmen der Verkehrspolizei.« Matte war bereits ganz in den Fall vertieft und verschwendete keinen Gedanken mehr an seine Frau.
»Wir können Silvia zumindest am Hauptbahnhof abholen. Sie hat doch Gepäck«, schlug Carina vor.
»Das geht nicht. Wir müssen zu den Eltern von dem Jungen.«
»Was heißt hier wir, ich komme nicht mit.«
»Du hast ihrem Sohn das Leben gerettet, da dachte ich … «
»Ob er überlebt, ist noch in der Schwebe. Außerdem hat mir dein neuer Kollege geholfen.«
»Der Peter? Auf den ist Verlass, der macht sich gut, seit ich ihm mal die Leviten gelesen habe.«
Carina nervte sein Lehrmeistergetue. Redete er vor anderen auch so von ihr? »Was war damals eigentlich mit ihm und dieser Zeugin?«
»Peter hat sich einlullen lassen und Sachen herausgegeben – was er nicht durfte. Er achtet eben mehr auf den Klang einer Stimme und die Wortwahl als auf die Aussagen selbst.« Ihr Vater berührte ihre Beule an der Schläfe. »Tut’s weh?«
Sie zuckte zusammen.
»Sollen wir wegen einem Eisbeutel an
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