Die Verstummten: Thriller (German Edition)
die Verankerung nach oben und schob die Tür auf.
»Dürfen wir das denn?«, fragte sie.
Ihr Vater überhörte ihre Frage. »Riechst du das?« Er lehnte seinen Stock in eine Nische.
Carina schnüffelte und folgte ihm ins Haus. Der Gestank nach Angebranntem stieg ihr in die Nase. Matte suchte den Lautstärkerregler an der Musikanlage, entdeckte schließlich die Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch.
»Brauchst du Handschuhe?«, fragte sie.
»Das ist doch kein Tatort.« Er legte die Fernbedienung wieder weg und riss einfach den Stecker aus der Wand. Bob Marley verstummte; der Klang hing noch eine Weile wie ein Schrei in der Luft.
Mit der abrupten Stille machte sich in Carina ein mulmiges Gefühl breit. Sie sah sich um. Rechts hinter einem Geländer führte eine Treppe in den Keller. Da war etwas, doch die Wand lag im Schatten. Sie schnupperte, einen Moment lang hatte sie so etwas wie Pulver gerochen, aber bestimmt täuschte sie sich, denn der Gestank nach Angebranntem übertünchte alles. Sie folgte ihrem Vater in die Küche, der einzige abgetrennte Raum zu dem riesigen offenen Wohnzimmer. Im Toaster steckten zwei fertig geröstete Scheiben Brot. Übergekochte Milch schwamm auf dem Ceranfeld, war zum Teil schwarzkrustig angetrocknet, der Rest den Ofen hinab auf den Boden gelaufen. Der eingebrannte Topf stand eingeweicht in der Spüle. Jemand hatte die Herdplatte abgeschaltet und Salz darauf gestreut, ein altes Hausmittel zur Geruchstilgung, das allerdings diesmal versagte.
»Vielleicht war das der Sohn, und danach ist er mit Papas Auto weg.«
»Du glaubst, wegen übergekochter Milch wird einer zum Geisterfahrer?«
Matte drehte an einem Griff, aber es war kein Küchenschrank, sondern eine holzverkleidete Tür zur Speisekammer, die in einen schmalen Raum mit vollen Regalen und einer Kühltruhe führte. Gleich dahinter ging es in die Garage. Fahrräder in sämtlichen Varianten, auch ein Tandem und eine Rikscha standen dort, und an der Wand hing sogar ein Hochrad.
»Mehr eine Radlfamilie.« Matte stützte sich auf das Regal mit Tomatensoßen aller Geschmacksrichtungen und spähte um die Ecke in die Garage. »Auf Jakob Loos ist nur der Mini zugelassen, kein Zweitwagen. Olivia hat anscheinend kein Auto.«
»Und wenn die Eltern mit dem Zug in den Urlaub gefahren sind und Enrico das Haus überlassen haben?«, spekulierte Carina. »Lass uns noch kurz im ersten Stock nachsehen, und dann gehen wir besser.«
Er nickte, schloss die Garagentür wieder. Auf der Treppe nach oben bemerkte Carina eine Veränderung an ihm. Er berührte das Geländer nicht, obwohl er sich sicher schwertat, ohne Stütze hinaufzusteigen, da sein Stock draußen an der Terrassentür lehnte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, als hätte er nun doch die Sorge, er könnte Spuren verwischen. Carina betrachtete die ungleichmäßig bestückte Fotogalerie an der Wand. Einige Nägel waren leer. Kleine Gemälde mit bunten Mustern hingen neben Familienfotos: Enrico als Kind auf einem Fahrrad mit Stützrädern, dann beim Wandern mit Rucksack und Steigeisen. Ein Hochzeitsfoto in einem herzförmigen Silberrahmen war mit dem Datum von Ostern dieses Jahresbeschriftet. Also hatten die beiden erst geheiratet.
Wie ein dünner Faden folgte ihnen der Gestank der angebrannten Milch nach oben.
Der Schreibtisch mit der Telefonanlage, den sie vom Eingang durch die Scheibe gesehen hatten, fand sich links gleich nach dem Treppenaufgang. Gleich gegenüber der letzten Stufe stand Rico’s auf einem wie ein Autokennzeichen geprägten Metallschild an der Zimmertür. Ein Rauchen-verboten-Button prangte über einem Plakat von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, auf dem eine Frau einem gelangweilt dastehenden Mann in die Unterhose griff; dazu der Text: Zu viel Alkohol = nix los in der Hos’.
Die Zeiten hatten sich verkehrt, früher rauchten Jugendliche heimlich auf dem Zimmer, heute verboten sie es den Eltern, dachte Carina. Hatte Enrico trotz des guten Vorsatzes an seiner Zimmertür etwa getrunken? Ihr war nichts aufgefallen, eigentlich reagierte sie empfindlich auf eine Alkoholfahne. Zwischen den vielen Gerüchen eines Menschen, ob tot oder lebend, konnte sie das meist ganz gut herausfiltern. Ihre Nase unterstützte sie als Werkzeug noch vor dem Skalpell.
»Gib mir besser doch Handschuhe«, bat Matte, auch Carina streifte sich welche über. Dann schob er die Tür zu Rico’s Zimmer auf. Eine geräumige Sporttasche lag auf dem Boden, aus der
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