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Die Verstummten: Thriller (German Edition)

Die Verstummten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Verstummten: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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lief er schon wieder davon, sah sie nicht mehr an, auch nicht als er sein Zeugnis kriegte, an ihrer Bank vorbeischlendert. Das konnte sie Sara nicht kurz nebenher erzählen, das mussten sie durchsprechen, in Ruhe, stundenlang, wie sonst immer an den Nachmittagen. Ihr fehlten auch die Worte; wie sollte sie Sara fragen, ob sie es doof fand, dass sie sich noch heute Morgen, in letzter Minute, umentschieden und abgesagt hatte? Sie traute sich einfach nicht, allein und ohne ihre Eltern, nur mit Saras Familie in Urlaub zu fahren. Beim Bushäuschen angekommen, zog sie aus ihrer Tasche, die am Rollerlenker hing, Saras Zeugnis. Ihre Freundin hatte vergessen, eine Mappe mitzunehmen. Sie reichte es ihr. Sara faltete das Zeugnis zweimal zusammen und schob es in die hintere Hosentasche. So was hätte sie sich nie getraut. Was, wenn die Einsen verknitterten? Dann fielen sie sich um den Hals.
    »Das ist so schade«, sagte Sara. »Willst du nicht doch? Ich leih dir auch meinen nagelneuen Tankini.«
    Das Teil, halb Bikini, halb Badeanzug, hatte Sara selbst entworfen und genäht. Sie schüttelte den Kopf, und beide weinten. Normalerweise heulte nur sie. Wie schon im Kindergarten brach sie auch jetzt noch, am Ende der dritten Klasse, bei jeder Kleinigkeit in Tränen aus. Als gäbe es da einen Schalter, auf den man nur einen Blick werfen musste, und sofort spritzte das Wasser aus ihren Augen wie aus einer Gießkanne. Wenn sich jemand in ihrer Klasse ihre Brotzeitbox aus dem Schulranzen schnappte und herumwarf, stand sie da und heulte. Wenn ihre Mitschülerinnen sich zwischen ihr oder der dicken Steffi beim Mannschaften-Wählen entscheiden mussten, hieß es: »Nehmt ihr die Mimose, dann nehmen wir die Knödelsteffi.«
    Mimose, das war das schlimmste Wort, das sie bis dahin gehört hatte. Ihr Papa musste es zu Hause richtig aus ihr herauspressen, weil sie es kaum über die Lippen brachte, so zitterten die.
    »Eine Mimose ist eine Pflanze mit einer wunderschönen sternförmigen Blüte, die sich zurückzieht, wenn man sie berührt. Sie schützt sich selbst und weiß sich zu helfen, wenn sie in Gefahr gerät, das ist doch einzigartig.«
    Was nutzte ihr das? Gerade wenn sie dagegen ankämpfte und die Zähne zusammenbiss, schwappten die Tränen aus ihr heraus, wie bei einem Topf, der überlief. Es passierte einfach, auch wenn sie versuchte, an was Schönes zu denken, so oft wie möglich aufs Klo ging und so wenig wie möglich trank, bis ihre Haut sich schuppte und sie einmal beim Sport sogar ohnmächtig wurde. Umsonst. So wie andere Mädchen ständig ein Zickzackmuster kicherten, heulte sie. Das sollte anders werden, nahm sie sich vor. Nach den Sommerferien würde sie trocken wie eine Wüste die vierte Klasse beginnen.
    »Komm, wir tauschen«, schlug Sara vor, als der Bus hielt und die Türen aufsprangen.
    Sie verstand nicht. Wollte sie an ihrer Stelle zu ihrer Oma fahren, anstatt nach Italien zu reisen?
    »Schnell, beeil dich.« Sara schlüpfte aus den Ärmeln ihres Shirts mit dem gestickten Schmetterling, der vorstand, wenn man darüberstrich, und die Perlen und Pailletten klimperten in allen Farben, als sie es auszog. Ihr eigenes Oberteil dagegen war ausgewaschen, das Popcorn löste sich an manchen Stellen, vielleicht hatte sie es auch mit der Dauerheulerei aufgeweicht. Sie streifte Saras Schmetterling über und reichte ihr das alte Shirt, dann umarmten sie sich noch einmal, drückten Popcorn und Schmetterling aneinander. Ganz lila roch Sara, genau wie ihre Lieblingsfarbe. Saras Geruch umwehte sie, bis ihre Freundin in den Bus gestiegen und nicht mehr zu sehen war.
    Als sie den Roller wendete und sich auf die Rolltreppe stellte, war das Lila in ihre Nase geschlüpft. Und sie verwandelte sich in Sara. Manchmal passierte ihr das nach einem Film, dass sie sich wie die Heldin der Geschichte fühlte. Nun hielt sie den Kopf wie ihre beste Freundin und warf die Haare wie sie zurück, obwohl ihre Locken viel zu kurz zum Wehen waren. In der S-Bahn zeichnete sie Saras Wortbild auf ihren Notizblock und auch das von Tim, die ganze lange Fahrt bis nach Gauting. Am Bahnhof saugten alle Eltern die Schulkinder in die Autos. Nur sie schob ihren Roller alleine durch die Unterführung, holte nach der Treppe Schwung und fuhr zur Siedlung zwischen den hohen Bäumen, die die Sonne verschluckten. Auf einmal verdrängte ein Grau das Lila, es schmeckte nach Zwiebeln. Hinter ihr atmete jemand, bestimmt ein Radfahrer oder Jogger, der sie überholen wollte. Sie drehte

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