Die Versuchung
jetzt nicht in der Stimmung für so etwas.“
Die beiden Kutschen fuhren gleichzeitig vor.
„Fahr los, Johann!“, rief Hamilton, nachdem er Olivia in den Wagen geholfen und sich neben sie gesetzt hatte.
Isabelle sah ihnen mit versteinerter Miene und zusammengepressten Lippen nach.
Am nächsten Morgen war Hamilton sich nicht mehr sicher, ob sein Verhalten nun klug gewesen war oder eher albern und kindisch. Auf dem Weg zum Frühstückstisch begegnete er Madame Rosenberg, die ihm gleichermaßen erstaunt wie verärgert vorhielt, sich tags zuvor nicht wie ein Gentleman benommen zu haben, worauf er mit einer Mischung aus Trotz und gespielter Gleichgültigkeit reagierte. Er wünschte sich, auf Isabelles Gesicht eine Spur von Ärger oder gekränkten Gefühlen zu entdecken, aber sie enttäuschte ihn erneut. Sie war vielleicht nicht besonders guter Laune, verhielt sich aber nicht wirklich auffällig. Gleich nach dem Frühstück erhielt sie einen Brief, den sie offenbar mit Ungeduld erwartet hatte. Und obwohl er vor Neugier brannte, zu erfahren, von wem er war und was darin stand, wagte er nicht, sie zu fragen. Als er sie am Nachmittag zu ihrem täglichen Spaziergang erwartete, schickte sie Gustel zu ihm, um ihm zu sagen, dass sie einen langen Brief zu schreiben und keine Zeit zum Ausgehen habe. An den folgenden Tagen half sie ihrer Mutter, Unmengen von Obst einzumachen und überhaupt schien sie ungemein beschäftigt zu sein.
Hamilton wusste, dass die Entfremdung zwischen ihnen seine Schuld war, aber er ahnte, dass Isabelle ihm auch bei einer reumütigen Beichte nicht sofort Absolution erteilen würde. So fuhr er ein paar Tage lang täglich nach München, um sich abzulenken. Etwa eine Woche später, als er gerade Isabelle mitteilte, dass er erst spät zurück kommen werde, weil er in die Oper wollte, trat Madame Rosenberg in sein Zimmer. Sie hielt eine silberne Haarnadel in der Hand und rief triumphierend: „Hier ist Olivia Bergers Haarnadel. Ich habe sie nicht im Garten gefunden, wo sie sie angeblich verloren hat, sondern in Ihrem Zimmer unter dem Kleiderschrank. Anna hat sie entdeckt, als sie den Boden gescheuert hat.“
„Gut möglich“, sagte Hamilton. „Madame Berger ist auf einen Stuhl gestiegen, um an die Geranien zu kommen, die ich auf den Kleiderschrank gestellt hatte, damit sie nicht daran kommt. Sie sprang hoch und ergriff den Blumentopf, landete aber auf dem Rand des Stuhls, so dass er umfiel. Ich war sehr erschrocken, weil sie liegen blieb und jammerte und auch noch eine ganze Weile ganz still auf dem Sofa lag, als ich die armen Geranien umgetopft habe.“
Madame Rosenberg lachte.
„Das sieht ihr ähnlich. Damit wollte sie verhindern, dass Sie sie wegen ihres Übermuts ausschimpfen – und der Trick hat wohl auch funktioniert.“
„Darauf wäre ich nicht gekommen“, sagte Hamilton überrascht.
„Nun, Sie können ihr heute jedenfalls ihre Haarnadel zurückbringen, wenn Sie sie besuchen.“
„Ich gehe nie zu Madame Berger“, sagte Hamilton und war froh, das mit gutem Gewissen sagen zu können. „Aber geben Sie die Nadel doch Johann, er kann sie dann zu ihr bringen, während ich in der Oper bin.“
„Isabelle, mach ihr ein kleines Paket und schreibe ihr ein paar Zeilen“, sagte Madame Rosenberg.
Isabelle nahm die Feder ihres Bruders Gustav und schrieb auf ein Blatt seines Schreibheftes ein paar strenge Worte, die auch nicht durch die Anrede „liebe Olivia“ und ihr gewohntes Duzen gemildert wurden. Hamilton zog ganz in Gedanken seine Handschuhe über und zerrte so daran, dass die Naht aufplatzte.
„Das sind die schlechtesten Handschuhe, die ich je besessen habe“, sagte er und warf sie verärgert auf den Tisch. „Das ist schon das zweite Paar, das mir in den letzten Tagen kaputt gegangen ist.“
„Die Handschuhe sind ganz sicher nicht schlecht“, bemerkte Madame Rosenberg, „Isabelle kann sie Ihnen gleich ausbessern. Seien Sie so gut, versiegeln Sie das Paket und adressieren Sie es an Olivia.“ Damit ging sie aus dem Zimmer.
Isabelle hatte das Malheur mit der geplatzten Naht in der Tat in wenigen Minuten behoben und gab ihm die Handschuhe zurück.
„Erlauben Sie mir, zum Dank Ihre Hand zu küssen – das besiegelt dann hoffentlich unsere Versöhnung“, sagte Hamilton.
„Wir haben uns nicht gestritten, wir müssen uns also nicht versöhnen“, antwortete sie.
„Und doch waren Sie über mich verärgert, da bin ich mir sicher.“
„Ich hätte nicht das Recht
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